Never tell a lie - Lügen können töten - Psychothriller
Selbst der Papierkorb, der in einer Ecke gestanden hatte, war verschwunden. Auf dem Fußboden lag ein vergilbtes Stück Segeltuch. Ivy blieb fast das Herz stehen, als sie erkannte, was es war - die Zwangsjacke aus der Korbtruhe.
Melinda hob sie auf und schüttelte sie aus. »War das nicht ein wunderbarer Zufall, dies hier in der alten Truhe zu finden? Wie ein Fingerzeig des Himmels. Ebenso der Schwan bei eurem Flohmarkt. Genau das hat sich meine Mutter immer gewünscht - dass ich mich mit ihrem Geld nach ihrem Tod in einen Schwan verwandele.«
Melinda hielt die Zwangsjacke an den Schultern hoch und hob einen Ärmel an. Er lief nach unten spitz zu und endete in einem herunterhängenden Lederriemen.
»Es liegt ganz an dir, ob ich das hier benutzen muss oder nicht.«
Ivy erschauerte unwillkürlich. Sie verhielt sich ganz still, aber ihr Verstand raste. Sie musste hier raus. Die offene Schlafzimmertür - Ivy rutschte langsam nach vorn, bis sie auf der Bettkante hockte.
Melinda ließ die Zwangsjacke fallen, ging rückwärts zur Tür und schlug sie zu. Dann lehnte sie sich dagegen.
»Du kommst hier nicht weg.« Sie deutete mit dem Kinn auf das Bett. »Setzt dich wieder hin und entspann dich.«
Ivy rutschte zurück. »Warum machst du das? Was willst du von mir?«
»Das habe ich dir doch gesagt.« Melindas Augen hatten einen wahnsinnigen Glanz. »Ich will das Baby, das David mir schuldet.«
»Dir schuldet? Dir schuldet ?« Ivys Stimme war schrill geworden. »Das ist …«
»Verrückt?« Melinda sah sie lange an. »Dann hat David dir also nie von uns erzählt?«
Von uns? Auf keinem einzigen Foto in Melindas Schlafzimmer waren Melinda und David zusammen zu sehen gewesen. Dieses »uns« konnte nur in Melindas Fantasiewelt existieren. Aber das machte es für sie nicht weniger real.
»David mochte dich«, versicherte Ivy.
»Das hat er dir gesagt?« In Melindas Augen schimmerte Hoffnung auf, und einen Augenblick lang wurde die neue, schlanke Melinda mit ihren begradigten Zähnen und den Strähnchen im Haar wieder zu dem pummeligen, teiggesichtigen Mädchen, das in der vierten Klasse noch Söckchen mit Spitzenrändern getragen hatte.
Dann wurde ihr Blick wieder hart. »Du lügst.« Sie packte das Messer noch fester und hielt es vor sich. »Ich bin keine Närrin. David hat mich nicht einmal erkannt, als er mich beim Flohmarkt wiedersah. Jedenfalls nicht gleich.« Sie lächelte. »Nicht, bis ich ihn daran erinnert habe, was damals passiert ist.«
»Was ist denn passiert?« Die Frage war Ivy entschlüpft, bevor sie es verhindern konnte.
»Als ob du das nicht wüsstest. Als hättet ihr euch nicht totgelacht - du und all die anderen aus der In-Clique.«
In-Clique? Ivy war ehrlich verblüfft. Sie hätte nie von sich behauptet, zu irgendeiner Zeit einer Gruppe von
Schülern angehört zu haben, die von allen bewundert wurden. Aber wenn Neid im Spiel war, kam es ganz auf die Perspektive an, und Melinda war stets eine Außenseiterin gewesen.
»Am Tag nachdem es passiert war, redeten alle darüber. Und sie flüsterten nicht mal. Sie machten sich nicht mal die Mühe, ihre Blicke und ihr Gekicher vor mir zu verheimlichen.« Melindas Mund verzog sich zu einem hässlichen, höhnischen Grinsen. » Die fette, armselige Melinda White hat es mit dem Football-Team getrieben . Nur, dass es nicht so war. Aber das spielte keine Rolle, weil alle glauben wollten, dass es so war. Daran erinnerst du dich doch auch noch, oder?«
»Ich …« Ivy wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie erinnerte sich daran, dass es Gerede gegeben hatte, aber sie hatte keine Ahnung gehabt, dass das Mädchen, um das es ging, Melinda gewesen war und welche Jungen in die Sache verwickelt waren. Das alles hatte stattgefunden, bevor sie und David sich regelmäßig trafen, zu einer Zeit, als die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit dem Star-Quarterback der Highschool von Brush Hills ausgehen würde, ebenso groß war wie die, von Aliens entführt zu werden.
»Und später, als ihr mich zur freundlichsten Schülerin gewählt habt?«, fragte Melinda. »Als hätte ich den Witz nicht kapiert.«
Ivy erinnerte sich noch sehr gut daran, wie die Mitglieder des Jahrbuchkomitees gelacht und sich zugezwinkert hatten, als sie von der Wahl erfuhren.
»Sie dachten, wenn ein Mädchen nicht besonders
hübsch ist, muss sie auch dumm sein.« Eine Träne glänzte in Melindas Augenwinkel, und sie ließ das Messer sinken, aber nur einen kurzen Moment lang. »Sie wussten ja nicht, was
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