Nevermore
sie wieder den Kopf.
»Es tut mir leid«, hörte sie ihren Vater sagen. »Wir … Nun, es war eine lange Nacht für uns. Für uns alle.«
»Ich verstehe«, sagte der größere Polizist. »In diesem Fall werde ich Ihnen meine Karte hierlassen und vielleicht können wir es zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal bei Ihnen versuchen. Wenn Ihnen jedoch in der Zwischenzeit irgendetwas einfällt, dann zögern Sie bitte nicht, uns anzurufen. Aber, wissen Sie«, fuhr er mit verändertem Tonfall fort, so als würden sich seine nächsten Worte an Isobel richten, »ich würde mir nicht allzu viele Sorgen machen. So etwas kommt andauernd vor und in neunzig Prozent der Fälle taucht der - oder diejenige schnell wieder auf. Außerdem haben wir den Eindruck, dass es hier nicht das erste Mal ist. Genau wie Ihre Tochter wurde der Junge vermutlich von den Sirenen verschreckt und ist einfach bei jemand anderem mitgefahren.«
Isobel hörte, wie sich ihr Vater von den Polizisten verabschiedete. Dann schloss er die Haustür und sperrte damit die kalte Luft und das gleißende Licht aus, sodass sie beide jetzt von Schatten übergossen wurden. Ihr Dad wandte ihr den Rücken zu, die Hand noch immer auf dem Türknauf, so als würde er darüber nachdenken, was er sagen sollte. Oder welche Meinung er überhaupt zu der ganzen Sache hatte.
Isobel stand auf. Sie schwankte und wartete darauf, dass ihr Vater sich endlich zu ihr umdrehte. Dann tat sie das, was ihrer Ansicht nach für beide die einfachste Lösung war. Sie warf ihm noch einen letzten Blick zu und wandte sich dann zum Gehen.
»Isobel!«, rief er.
Sie blieb stehen, allerdings nur einen kurzen Augenblick lang. Dann schwebte sie wie ein Geist die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer.
Einsam und voll Grausen
Am Montag ging Isobel wieder zur Schule. Körperlich war sie zwar anwesend, aber nicht geistig. Ihre gesamte Vorstellung vom Universum stand auf dem Kopf. Worte waren nicht mehr zu entschlüsseln. Menschen verwandelten sich in Gegenstände, in Maschinen, die sich wie bedeutungslose, formlose Schatten um sie herum durch Raum und Zeit bewegten. Stunden verstrichen, ohne dass sie sich dessen bewusst war. Die ganze Zeit über veränderten sich ihre Gedanken nicht, wichen nie von dem Ort, wo sie Varen zuletzt gesehen hatte - das violette Zimmer, wo er eingesperrt auf sie wartete. Dort hatte sie ihm versprochen, dass sie zurückkehren würde. Dieses Bild seiner Verzweiflung nagte an ihr.
In Mr Swansons Unterricht fühlte Isobel sich von Varens leerem Stuhl verfolgt. Obwohl sie genau wusste, dass er leer war, sah sie immer wieder hin, als könnte Varen jeden Moment dort auftauchen.
Sie ging nicht in die Cafeteria, um dort mit Gwen, Stevie oder Nikki an ihrem Patchworktisch zu sitzen. Stattdessen verbrachte Isobel die Mittagspause in der Turnhalle. Dort schlug sie einen Salto nach dem anderen und arbeitete hart an ihrem Flickflack und ihrer Radwende. Sie ging die Choreografie wieder und wieder durch, bis die sich ständig wiederholenden Bewegungen und die Konzentration die Welt um sie herum auslöschten. Bis sie nicht mehr nachdenken musste. Bis es nur noch sie und den Boden gab.
Trotzdem konnte sie dem Gespenst der Erinnerung nicht entrinnen. Varen folgte ihr überallhin. Sie spürte ihn auf ihrer Haut und sah ihn in allem, was sie umgab. In den Büchern, die sie mit sich herumtrug. In dem Papier, auf das sie gezwungen war zu schreiben.
Das Training ließ Isobel diese Woche ausfallen. Sie wollte weder Nikki noch Stevie ins Gesicht sehen und Gwen ging sie so gut wie möglich aus dem Weg, indem sie zu unüblichen Zeiten zu ihrem Spind und auf Umwegen zum Unterricht ging. Es war ihr egal, ob sie dadurch zu spät kam. Während Stevie und Nikki den Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen schienen, trieb Isobels Verhalten Gwen dazu, extremere Maßnahmen zu ergreifen. Sie rief jeden Abend bei Isobel zu Hause an, obwohl ihr Isobels Vater bereits mehrfach klar und deutlich gesagt hatte, dass seine Tochter bis auf Weiteres keine Anrufe entgegennehmen durfte. Daraufhin ging Gwen dazu über, ihre Stimme zu verstellen, obwohl sie wusste, dass Isobels Eltern über Anruferkennung verfügten. Fast jeder dieser Anrufe endete damit, dass ihr Vater einfach auflegte. Er bezeichnete Gwen seitdem als dieses Mädchen aus dem Norden.
Ausnahmsweise war Isobel einmal dankbar dafür, Hausarrest zu haben. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, mit Fragen überhäuft zu werden, auf die sie
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