Nevermore
Bess?
»Hallo?« Ihre Stimme klang leise und dünn. Sie bekam keine Antwort, glaubte allerdings, Papierrascheln zu hören. Isobel ließ die Tür hinter sich offen und stieg die Stufen hinauf.
Es gab kein Treppengeländer, Isobel musste sich also an den mit dunklem Holz verkleideten Wänden abstützen. Die Stufen ächzten und knarrten unter ihren Füßen, als erzählten sie sich Geheimnisse über sie.
Sie machte einen Schritt nach dem anderen, doch als sie fast ganz oben war, überkam sie plötzlich ein seltsames Gefühl. Sie spürte es zuerst in ihrem Magen, irgendwie flau, gepaart mit einem ganz leichten Schwindel. Es brachte ihre Haut zum Kribbeln und ließ die winzigen Härchen abstehen. Isobel hielt inne und lauschte.
Krach!
Sie schrie auf. Ihre Knie knickten ein und sie ging in die Hocke, um sich an den Stufen festzuhalten. Sie riss den Kopf herum und sah, dass jemand die Tür hinter ihr zugeschlagen hatte.
Die Geister der Toten
»Was, machst du da?«
Sie kannte diese Stimme: gelangweilt und ruhig, mit einem leichten Anflug von Gereiztheit.
Isobel drehte langsam den Kopf, bis ihr Blick auf ein Paar staubige schwarze Stiefel fiel, das sich am oberen Ende der Treppe befand, weniger als dreißig Zentimeter von ihrer Nase entfernt. Sie legte den Kopf in den Nacken und ihre Augen trafen auf die kühlen grünen von Varen Nethers.
Er starrte auf sie herab, in der einen Hand einen Discman, die andere hatte er auf die dröhnenden Kopfhörer gelegt, die um seinen Hals hingen.
»Dieser verrückte Alte hat einfach die Tür hinter mir zugeschlagen!«
Er warf ihr einen mahnenden Blick zu, dann drehte er sich um und ging in einen sehr, sehr kleinen, fast schon winzigen Raum. Er sah aus wie ein Dachboden oder wie etwas, das einmal ein Dachboden gewesen war.
Varens Stiefel schlugen dumpf auf den verzogenen Dielenbrettern auf, als er zu einem kleinen Tischchen ging, das über und über mit Papieren bedeckt war. In der Mitte des Raumes lag, wie der abgetrennte Skalp eines Monsters mit schütterem Haar ein hässlicher, abgetretener braun-oranger Teppich. Mit Ausnahme von ein paar obligatorischen Bücherstapeln in Ecke war der Raum leer.
Der Tisch stand unter dem einzigen Fenster. Es war klein rund und ging zur Straße hinaus.
»Bruce kann Lärm nicht ausstehen«, sagte Varen, »ich kann mir also nicht vorstellen, dass er Türen zuschlägt.« Er setzte sich, legte den Discman zur Seite und durchforstete den Papierwust.
Isobel beäugte den doch recht altmodischen Discman. Komisch, dass er keinen iPod oder irgendeinen anderen MP3-Player hatte. Sie verkniff sich aber lieber einen Kommentar. Stattdessen verschränkte sie die Arme und sagte: »Willst du damit sagen, dass ich lüge?«
»Habe ich das behauptet?«, fragte Varen zurück, ohne aufzusehen, und Isobel erinnerte sich daran, dass das die allerersten Worte gewesen waren, die er zu ihr gesagt hatte.
»Na ja, du hast es zumindest angedeutet.«
»Du ziehst voreilige Schlüsse.«
»Ach ja, und wer hat dann die Tür zugeknallt?«
»Bess«, antwortete er, als sei das die einzig logische Schlussfolgerung.
»Wer zum Teufel ist denn diese Bess?« Isobel riss die Arme hoch und ließ sie verärgert wieder sinken. Sie hatte Bess noch nicht einmal kennengelernt und konnte sie bereits jetzt nicht ausstehen.
»Der Poltergeist.«
»Der was?«
»Pol-ter-geist«, wiederholte er und betonte dabei jede Silbe.
»Wie bitte?« Isobel lachte laut auf. »Ein Gespenst?«
»So was in der Art.«
»Du meinst das wirklich ernst.«
Er sah vomTisch auf und direkt in ihre Augen - vollkommen ernst.
»Egal«,sagte sie und wischte einen grauen Staubfleck von ihrer Jeans, der wahrscheinlich von den schmutzigen Stufen stammt.
Es war offensichtlich, dass er wieder mal versuchte, sie einzuschüchtern. Wahrscheinlich.
Isobel ignorierte die Gänsehaut, die ihren Nacken hochkrabbelte wie winzige Spinnen mit elektrisch geladenen Beinen. »Wir arbeiten also hier oben? Ich kapier es nicht. Woher kennst du diesen Typen?«
»Bruce gehört die Eisdiele.«
»Er ist dein Chef?«
»Mehr oder weniger«, sagte Varen und kritzelte etwas auf seinen Block.
»Ich habe mich nur gefragt, warum du ganz alleine da warst.« Sie versuchte, es mit dem Nachfragetrick ihres Vaters mehr wie eine beiläufige Beobachtung als wie Neugier klingen zu lassen.
»Ja, na ja, er hat nicht allzu viel Hilfe. Und wenn wir gerade dabei sind, es wäre mir sehr recht, wenn du ihm nicht erzählst … was passiert
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