Nevermore
aus. Sie begann mit dem ersten Absatz:
Der Rote Tod hatt’ lang das Land verheert. Nicht eine Pestilenz je war so voll Verderben, so scheußlich graus gewesen. Blut war ihr Avatara und Sigill - die Rotglut und der Horror Bluts. Schneidende Pein trat ein und jäher Schwindel - und dann, aus allen Poren überflutend, Blutfluß, mit Tods Zersetzung. Scharlachene Flecken auf dem Leib und auf besonders dem Gesicht des Opfers warn der Plage Bann, der es von Hülfe und von Mitgefühl der Nebenmenschen ausschloß. Und erster Anfall, Fortgang und das Ende der Seuche warn dann das Werk kaum einer halben Stunde.
Isobel sah von der Seite auf. Über den Buchrand hinweg starrte sie Varen an, der immer noch in seine Notizen versunken war. Meinte er das ernst? Allein der erste Absatz klang schon wie die Zusammenfassung eines billigen Messerstecherstreifens, aufgepeppt mit 19.-Jahrhundert-Flair. Entweder das oder ein Obduktionsbericht. Widerwillig las sie weiter.
Doch der Fürst Prospero war glücklich und beherzt und von besonderen Klugsinn.
Isobel hob den Kopf und sah Varen fragend an. »Was bedeutet >Klugsinn«
»Klugsinn«, antwortete er, während er weiterschrieb, »kommt von klugsinnig. Das ist ein Adjektiv, das jemanden beschreibt, der über scharfe geistige Fähigkeiten verfügt. Es beschreibt auch jemanden, der in einem Buchladen auf die Idee kommt, aufzustehen und ein Wörterbuch zu suchen, statt einen Haufen Fragen zu stellen.«
Isobel schnitt eine Grimasse. Als sein Stift innehielt, senkte sie ihren Kopf und tauchte wieder in die Seite.
Als seine Lande halb entvölkert waren, forderte er wohl tausend gesunde und frohmutige Freunde unter den Rittern und Damen seines Hofes vor sein Angesicht, und mit ihnen zog er sich in die tiefe Abgeschiedenheit einer seiner befestigten Abteien zurück. Es war dies ein ausgedehnter und gar prächtiger Bau, die Schöpfung von des Fürsten eigenem exzentrischen, doch hehr erhabenen Geschmack. Eine hochmächtige Mauer gürtete sie ein. Und diese Mauer hatte erzene Pforten. Da sie nun eingezogen, brachten die Höflinge Schmelzöfen und massige Hämmer herbei und verschweißten die Riegelbolzen. Es sollte, so beschloß man, weder
für Eindrang von draußen dort noch für Entweichen hier jähen Antrieb von Verzweiflung oder von Tollsucht gar ein Mittel belassen bleiben.
Isobel hielt inne und überlegte, dass das wohl bedeutete, dass egal auf welcher Seite der Tür man sich befand, keine Möglich’ keit gab, aus dem Hotel Prospero auszuchecken. Sie musste zu geben, dass das wirklich etwas unheimlich war und sie wisse wollte, wie es weiterging. Wie würde Poe seine Leute bloß aus diesem Schlamassel herausholen, wenn es keinen Ausgang gab? Sie sprang vor zum Ende des Absatzes.
Possenreißer waren zur Stelle, Improvisatoren, Ballett-Tänzer auch und Musikanten, da gab es Schönheit, da gab es Wein. All dies und Sicherheit waren hier drinnen. Draußen war und blieb der Rote Tod.
Blablabla. Sie blätterte um.
»Lässt du Seiten aus?«, fragte Varen.
»Nein«, log sie, »ich lese einfach nur schnell.«
Es war ein zügellos wollüstliches Schauspiel, dieses Maskenfest. Doch erst noch seien die Räume geschildert, in denen es so wild gefeiert ward. Es waren ihrer sieben - eine herrscherliche Suite.
An dieser Stelle spürte Isobel zum ersten Mal, wie die Geschichte sie in ihren Bann zog. Langsam gaben die Worte die Sicht frei auf Höflinge, die sich in Zeitlupe vor ihrem geistigen Auge bewegten. Es war, als hätte sie sich irgendwie an die Schwere der Sprache gewöhnt. Schon bald verwischten die Worte auf der Seite und an ihre Stelle schob sich das Gefühl, durch die Szenerie so als wäre sie zu einer Filmkamera geworden, die durch die verschiedenen Räume und über die Köpfe kostümierter Schauspieler hinwegschwebte.
Jeder der sieben Räume, las sie, hatte eine andere Farbe und dazu passende hohe gotische Fenster. Zuerst kam das blaue Zimmer, dann das purpurne, dann das grüne, dann das orange, das weiße und schließlich das violette. Das letzte Zimmer war schwarz und hatte schwere Vorhänge und blutrote Fenster.
In diesem Gemach auch war es, daß an der westlichen Wand sich eine gigantische Standuhr aus Ebenholz erhob. Ihr Pendel schwang her und hin mit dumpfem, wuchtig monotonem Schall; und wenn des großen Zeigers Kreisbahn auf dem Zifferblatt beendet und eine neue Stunde auszuschlagen war, kam von den messingnen Lungen der Uhr ein
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