Neville, Katherine - Der magische Zirkel
Judäa
Liebste Miriam,
verzeih meine wirre Handschrift und meine nicht minder wirren Gedanken. Obwohl jetzt jede Woche ein Schiff von Joppe nach Massilia abgeht, beeile ich mich mit diesem Brief, weil ich weiß, daß Du nicht vorhast, la nge dort an der Küste Galliens zu bleiben, sondern bald nach Norden zu Deiner Familie in den Pyrenäen Weiterreisen willst.
Ich lege den Brief bei, den ich eben von meinem Sohn erhalten habe. Wie Du siehst, möchte er, daß ich mit niemandem darüber spreche. Aber Miriam, dieser Brief hat mich sehr aufgeregt.
Ich fürchte, ich hätte Dir in Deiner Eigenschaft als Apostel oder Bote schon früher einige Dinge sagen sollen. Doch sie hatten kaum Bedeutung für mich, bis der Brief von Johannes wieder so vieles wachgerufen hat, was damals in der letzten Woche im Leben des Meisters geschah – besonders an jenem letzten Abend.
Wie Du bestimmt schon von anderen erfahren hast, fand das letzte Passah-Abendmahl, an dem der Meister teilnahm, hier in meinem Haus statt. Aber vielleicht weiß außer mir niemand, daß der Meister dieses Mahl bis ins kleinste Detail geplant hatte. Er erklärte mir genau, wie alles in dem oberen Zimmer meines Hauses, wo das Essen serviert wurde, hergerichtet sein sollte. Einiges, was er bestellte, war so lu xuriös, daß ich überrascht war. Und immer wieder betonte er, daß alles vor, während und nach der Mahlzeit genau so erfolgen mußte, wie er es angeordnet hatte. Außerdem sagte er mir im Vertrauen, daß er sich nach dem Abendessen in die Höhle auf Josephs Grundstück im Gethsemane zu einem Initiationsritual zurückziehen wollte. Heute erscheint mir das von Bedeutung.
Mir ist natürlich schon früher der Gedanke gekommen, daß es einen Grund geben mußte, warum Du nicht zu dem Essen eingeladen wurdest, von dem der Meister sicher gewußt hat, daß es das letzte im Kreis seiner Jünger sein würde. Schließlich wußte jeder, daß Du der erwählte Jünger warst – «Alpha und Omega» hat er Dich oft genannt, nicht wahr? Dann warst Du nach seinem Tod die erste Zeugin seines Aufstiegs in die Obhut Gottes. Aber das Entscheidende für mich ist, daß Du, Miriam, schon vor dem Abendmahl in die Mysterien eingeweiht warst!
Zweifellos hast Du viele Berichte von anderen erhalten, die bei jenen Ereignissen anwesend waren. Aber ihre Berichte waren vielleicht nicht ganz sachlich, weil sie selbst Teilnehmer waren und ihnen dadurch das Wesentliche entgangen sein könnte. Es ist durchaus möglich, daß wie mein Sohn einmal vermutete – das ganze Mahl und die damit verbundenen Ereignisse vom Meister als eine Art Prüfung für die anderen Jünger gedacht waren, sozusagen um die Spreu vom Weizen zu trennen: Wer würde sich nach diesem Abend und nach dem Tod des Meisters der Verwandlung würdig erweisen, die er stets jenen anbot, die solche Prüfungen bestanden? Ich habe diese Geschichte wie ein unbeteiligter Beobachter aufgeschrieben. Ich bitte allein Dich, Richter zu sein.
Das letzte Mahl
Einige Tage vor Passah erklärte der Meister seinen Jüngern aus Gründen, die nur ihm bekannt waren, auf welche Weise sie am Abend in die Stadt kommen sollten, um den Ort zu finden, wo das Nachtmahl stattfinden sollte. Er bat sie, am Schlangenteich in der Nähe des Essenertors im Süden der Stadt zu warten. Ein Mann mit einem Wasserkrug würde kommen und sie nacheinander zu dem vereinbarten Ort führen. Auf diese Weise stellte der Meister sicher, daß nur die zwölf an dem Mahl teilnahmen. Er selbst kam als letzter, als dreizehnter.
Es war eine Überraschung, daß der Wasserträger der junge Johannes Markus war, der zehnjährige Sohn von Maria Markus, die mit ihrem Bruder Barnabas von Zypern zu den wohlhabendsten Gönnern des Meisters zählte. Ihr palastartiges Haus auf der Westseite des Zionbergs war jahrelang für Simon Petrus das zweite Zuhause, wenn er sich nicht in Galiläa aufhielt; und wenn der Meister und seine Jünger hier bis spät in die Nacht am Kaminfeuer saßen und miteinander sprachen, wurden sie stets großzügig bewirtet.
An diesem Abend gab es eine weitere Überraschung. Jeder Jünger wurde am Eingang von Rosa, Maria Markus Haushälterin, begrüßt und anschließend von einem Diener nicht in den Speisesaal, sondern mehrere Treppen nach oben in einen Raum unmittelbar unter dem Dach des Hauses geführt. Dieser Raum war kostbar eingerichtet, wie es keiner von ihnen je in einem Privathaus gesehen hatte. Die niedrigen, mit bunten Steinen eingelegten Marmortische
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