Neville, Katherine - Der magische Zirkel
sagte ich. «Doch, das sind Sie», erwiderte er mit einem kleinen
Lächeln. «Sie besitzen gewisse Eigenschaften wie einst Ihre Großmutter. Versuchen Sie, ob Sie imstande sind, in der Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzählen werde, eine weitere, verborgene Ebene zu entdecken.»
Die geheime Geschichte
Einst wurde ein blaugrauer Wolf geboren, dessen Schicksal der Himmel bestimmte. Seine Gespielin war eine Damhirschkuh. Sie kamen über den Tenggis… Als [ihr Nachfahre] geboren wurde, hielt er in seiner Rechten ein Klümpchen Blut, so groß wie ein Knöchelbein. [Er erhielt] den Namen Temudschin [Schmied].
T HE S ECRET H ISTORY OF THE M ONGOLS ;
nach der Übersetzung von Francis Woodman Cleaves.
Im Jahr 1160 wurde an einer Süßwasserquelle nahe des Onon in der mongolischen Steppe eine geheimnisumwitterte Gestalt geboren. Seine Vorfahren waren, so erzählt es die Legende, ein blauer Wolf und eine Damhirschkuh. Sein Name war Temudschin. Als Temudschin neun Jahre alt war, vereinbarte sein Vater seine Verlobung mit einem Mädchen aus einem Nachbarstamm; doch auf dem Rückweg zu seinem Stamm rastete er bei einigen Tataren, die ihm zu essen gaben und ihn vergifteten. Temudschin und seine Brüder, die alle noch Kinder waren, verloren die Herden ihres Vaters an ihren Stamm, der weiterzog und die Witwe mit den Kindern in Armut zurückließ. Die Familie zog zum heiligen Berg Burqan Qaldun an der Quelle des Onon, wo sie nach Nahrung suchten. Temudschin betete jeden Tag zu diesem Berg.
Als Temudschin erwachsen und mit seiner Braut verheiratet war, hatte er die Mongolenstämme um sich geschart, und von den Tataren lagen nur noch die Knochen auf den Schlachtfeldern. Er eroberte ein Drittel von China und einen großen Teil der östlichen Steppe. Der Schamane Koktschu erklärte den Mongolenvölkern, es sei Temudschins Schicksal, eines Tages die Welt zu beherrschen und der große Führer zu werden, der die vier Ecken vereinen würde, wie dies seit Urzeiten vorausgesagt war.
Und tatsächlich wurde Temudschin im Alter von sechsundzwanzig Jahren und nach vielen erfolgreichen Schlachten zum ersten Großkhan gewählt, der alle Stämme unter einem tug oder einer Fahne vereinte. Sein Khan-Titel lautete «Dschingis», ein Wort aus der Uigurensprache, das wie das tibetische «Dalai» Meer bedeutet.
Später sagte man, es sei Dschingis-Khan von Geburt an bestimmt gewesen, daß sich unter ihm Ost und West wie die Fäden eines kunstvollen Teppichs untrennbar verweben und verknüpfen würden. In wenigen Jahren hatten die Mongolen ein Weltreich aufgebaut, das sich vom Kaspischen Meer bis an den Stillen Ozean erstreckte. Dschingis-Khan hatte sich seinen Titel «Herrscher der Meere» zu Recht verdient.
Obwohl Dschingis-Khan nicht lesen und schreiben konnte, erkannte er die Macht des geschriebenen Wortes. Er ließ seinen Moralkodex als Gesetz aufschreiben, und diese Gesetze wurden so streng durchgeführt, daß angeblich zu seinen Lebzeiten eine Jungfrau mit einer goldenen Schale auf dem Kopf unbehelligt über die ganze Seidenstraße wandern konnte. Er ließ die Geschichte und Genealogie der Mongolen in heiligen Blauen Büchern aufzeichnen und für spätere Generationen in Höhlen aufbewahren; und genauso verfuhr er mit dem alten Wissen der Schamanen, Magi und Priester, das er in jedem eroberten Land sorgfältig erforschen und aufschreiben ließ.
Es heißt, daß alle diese Dokumente zusammen den Schlüssel zu alten, sehr mächtigen Geheimnissen liefern – Geheimnissen von so elementarer Natur, daß sie, sobald sie ans Licht kämen, die Anmaßung der heutigen «organisierten» Religionen, die sich im Lauf der Jahrhunderte innerhalb ihrer eigensinnigen Dogmen als versteinerte Riten und Rituale herauskristallisiert haben, hinwegfegen würden.
Was Dschingis-Khan wirklich in den Höhlen verbarg, ist angeblich eine Tradition, die über jede Religion hinausgeht, aber die konzentrierte Essenz enthält, die den Kern einer jeden ausmacht. Bis in unser Jahrhundert haben Menschen, die an der Nutzung einer solchen Kraft interessiert sind oder waren, nach diesen Höhlen und ihrem Inhalt gesucht.
In den 1920er Jahren, zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, hörte der russische Mystiker Nicholas Roerich auf seinen Reisen durch die Mongolei, Tibet und Kaschmir von diesen Dokumenten. Man erzählte ihm, sie seien über Zentralasien, Afghanistan und Tibet verstreut und wenn sie auftauchten, würden sich auch die verborgenen Städte Shangri-La,
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