Neville, Katherine - Der magische Zirkel
vor die Nase hielt und gleich darauf wieder verschwinden ließ. Ich hatte kaum Zeit, die zwei Worte zu lesen, die darauf gedruckt waren: Volga Dragonoff.
Großer Gott! Volga – Onkel Lafs Kammerdiener! War Laf etwas zugestoßen, seit ich ihn zuletzt in Sun Valley gesehen hatte? Aber warum sonst würde mich Volga hier aufsuchen? Zu allem Überfluß benahm sich meine stattliche Leibwächterin mehr als verdächtig. Ihre ängstlichen Augen schossen hin und her und machten mich ziemlich nervös.
Ich beschloß also herauszufinden, was hier los war, schlüpfte in meine Pelzstiefel, die neben der Tür standen, warf mir meinen dicken Mantel über die Schultern und trat in den Gang hinaus. Im trüben Neonlicht des Korridors konnte ich unsere Atemwölkchen sehen, und während wir die zwei Stockwerke hinunterstiegen, zog ich meine Handschuhe an.
Volga wartete in der Eingangshalle, eingemummt in einen dunklen schweren Mantel. Als ich ihn begrüßte und in sein zerfurchtes, nüchternes Gesicht blickte, das niemals lächelte, wurde mir bewußt, daß ich in den rund zwanzig Jahren, seit ich den treuen Begleiter meines Onkels kannte, wahrscheinlich höchstens zwei Dutzend Worte mit ihm gewechselt hatte, was dieses mitternächtliche Treffen noch befremdlicher machte.
Volga verbeugte sich vor mir, warf einen Blick auf seine Begleiterin. Sie durchquerte die Halle, schloß eine Tür auf, schaltete eine Reihe trüber Beleuchtungskörper an und ließ uns allein. Volga ließ mir den Vortritt in den Raum, einen riesigen Speisesaal mit langen, bereits für das Frühstück gedeckten Tischen. Er bot mir einen Stuhl an, dann setzte er sich ebenfalls, holte eine Flasche aus der Manteltasche und reichte sie mir.
«Trinken Sie. Es ist Slivovitz, vermischt mit heißem Wasser. Es wird sie warmhalten, solange wir sprechen.»
«Warum kommen Sie mitten in der Nacht zu mir, Volga?» fragte ich, während ich die Flasche nahm, um mir wenigstens die Hände zu wärmen. «Ist Onkel Laf etwas passiert?»
«Als wir gestern nichts von Ihnen gehört haben und Sie auch nicht wie erwartet in die Wiener Wohnung des Maestro gekommen sind, hat er sich Sorgen gemacht», antwortete Volga. «Heute haben wir uns an Ihren Kollegen in Idaho, Mr. Olivier Maxfield, gewandt, aber als wir mit ihm Kontakt bekamen, hatten Sie Wien bereits Richtung Leningrad verlassen.»
«Und wo ist Onkel Laf jetzt?» fragte ich mit einem gräßlich flauen Gefühl im Magen. Ich schraubte den Deckel von der Flasche und nahm einen Schluck von dem seltsamen Getränk, das mich tatsächlich etwas wärmte.
«Der Maestro wollte selbst kommen, um die Dringlichkeit der Lage zu erklären», sagte Volga, «aber sein sowjetisches Visum war abgelaufen. Ich bin Transsylvanier. Die rumänische Regierung hat einen Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion, so daß ich kurzfristig einreisen konnte. Ich bin mit dem letzten Flugzeug aus Wien gekommen, aber die Einreiseformalitäten verursachten eine weitere Verzögerung. Ich bitte um Vergebung, aber der Maestro bestand darauf, daß ich Sie noch heute nacht treffe. Hier ist ein Brief von ihm, der Ihnen bestätigt, was ich sage.»
Volga reichte mir ein Kuvert. Während ich es öffnete, fragte ich: «Wie haben Sie es geschafft, daß mich meine gestrenge Bewacherin für ein nächtliches Rendezvous aus dem Käfig gelassen hat?»
«Mit Angst», sagte Volga. «Ich kenne diese Menschen sehr gut.» Darauf wußte ich nichts zu sagen. Ich las Onkel Lafs Brief:
Liebste Gavroche,
nachdem Du nicht gekommen bist, vermute ich, daß Du meinen Rat nicht befolgt und gestern abend vielleicht etwas Dummes getan hast. Laß Dich trotzdem herzlich grüßen. Volga hat Dir etwas ziemlich Wichtiges zu sagen: Bitte höre ihm aufmerksam zu. Ich hätte Dir gern alles selbst gesagt, bevor wir uns in Sun Valley trennten, aber nicht vor der Person, mit der Du gekommen bist – und dann mußtest Du ja plötzlich weg.
Dein Kollege, Mr. Olivier Maxfield, bat mich, Dir zu sagen, daß auch er Dich gern erreichen würde wegen einer anderen Privatsache, und das bald.
Dein Onkel Lafcadio
«Hat Olivier eine Andeutung gemacht, worüber er mit mir sprechen will?» fragte ich Volga und dachte vor allem an Jason, meinen Kater.
«Ich glaube, es ging um etwas Geschäftliches», antwortete Volga. «Ich habe wenig Zeit und viel zu sagen», fuhr er fort. «Und ich möchte nicht, daß Sie sich erkälten. Deshalb will ich gleich zur Sache kommen. Ich bitte Sie, keine Fragen zu stellen, bevor ich
Weitere Kostenlose Bücher