Neville, Katherine - Der magische Zirkel
die sehr bald ihre bemerkenswerte Stimme erkannte. Im Mai 1945, als der Zweite Weltkrieg endete und Jersey erst fünfzehn war, bewarb sie sich um die Hauptrolle in The Desert Song, einem Musical von Sigmund Romberg, das seit Adam und Eva durch die Lande tingelte und dringend frisches Blut brauchte. Sie gab sich für älter aus, als sie war. Die Rolle der Margot, eine tour de force, war ideal für eine junge Koloratursängerin wie Jersey.
Bei der Premiere irgendwo in der Provinz wurde unsere Cinderella von einem New Yorker Talentsucher entdeckt, der die Klangschönheit und den Umfang ihrer Stimme erkannte, die sie später von Dutzenden anderen jungen Sopranistinnen unüberhörbar unterschied. Der Agent nahm Jersey unter Vertrag, versicherte jedem, sie würde trotz der glänzenden Karriere, die er voraussah, die Schule abschließen, besorgte ihr einen erstklassigen Gesangslehrer, und der Rest ist, wie man so sagte, Geschichte.
Was ich jetzt herausfinden mußte, war die geheime Geschichte, wie Volga Dragonoff vielleicht sagen würde – die unbekannte Geschichte hinter der sehr auf die Medien zugeschnittenen Vita meiner Mutter. Aber selbst wenn man die Fakten der Reihe nach durchging, gab es in Jerseys gut dokumentiertem Leben nichts, was Volgas Behauptung, ihre Mutter sei die Tänzerin und Halbweltdame Zoe Behn, widerlegt hätte.
Zum Beispiel, wenn Laf um die Jahrhundertwende geboren wurde und Zoe sechs Jahre alt war, als er zwölf war, dann war Zoe, als meine Mutter 1930 auf der Insel Jersey geboren wurde, vierundzwanzig und genau im richtigen Alter, um mit einem hübschen irischen Piloten auf eine Insel durchzubrennen und ein Baby zu bekommen. Und hatte Wolfgang nicht gesagt, sie sei in der Résistance gewesen? Es war also auch durchaus glaubwürdig, daß Zoe, die den größten Teil ihres extravaganten und ebenfalls ausführlich dokumentierten Lebens in Frankreich verbracht hatte, eine zehnjährige Tochter in der relativen Sicherheit der Kanalinseln zurückließ, wenn sie befürchtete, die Sicherheit eines anderen Menschen könnte durch die deutsche Besatzung gefährdet sein. Aber wer könnte dieser andere gewesen sein?
Andererseits waren seit dem Krieg fast fünfzig Jahre vergangen. Sicherlich waren unzählige Familien getrennt worden, und es hatte oft Jahrzehnte gedauert, bis verlorene Angehörige wiedergefunden wurden; aber es war doch sehr verdächtig und eigentlich kaum vorstellbar, daß in all diesen Jahren weder Jersey noch Zoe wußten, daß die jeweils andere gesund und wohlauf ein glanzvolles Leben in Wien beziehungsweise Paris führte.
Dazu kam die Tatsache, daß meine Mutter nacheinander mit zwei Männern namens Behn verheiratet war und bei einem dritten, meinem Onkel Laf, gewohnt hatte. Auch wenn Jersey behauptete, nur wenig über ihre Herkunft zu wissen, oder tatsächlich nicht mehr wußte, konnte ihr nicht entgangen sein, daß diese drei Männer, mit denen sie viele Jahre zusammengelebt hatte, ihre leiblichen Onkel waren. Und wenn Volga und Laf von dieser Sache wußten, was wußten dann Jerseys Ehemänner, Onkel Earnest und mein Vater Augustus?
Volga wollte sich zu diesen Fragen nicht äußern. Entweder wußte er nicht mehr, oder er wollte nicht mehr sagen.
«Da müssen Sie Ihre Mutter fragen», wiederholte er, sobald ich nachhakte. «Es ist ihre Sache. Vielleicht hatte sie Gründe, so lange zu schweigen.»
Als ich mit meiner Geduld und meiner Ausdauer so gut wie am Ende war, kehrte meine Bewacherin zurück und gab mit aufgeregten Gesten zu verstehen, daß sie mich wieder in mein Zimmer sperren wollte, bevor uns jemand hier im Speisesaal erwischte. Bevor wir uns trennten, bedankte ich mich bei Volga für alles, was er mir gesagt hatte. Dann schrieb ich rasch ein paar Zeilen an Onkel Laf, um ihm mitzuteilen, daß ich versuchen würde, auf dem Rückweg in die USA bei ihm vorbeizukommen, und ich entschuldigte mein Ausbleiben während meines letzten Wienaufenthalts mit Terminen und der Entfernung zwischen der IAEA und Melk.
Wieder zurück in meinem Zimmer war ich hellwach, was bestimmt nicht nur an meinem leeren Magen, der Kälte oder meiner mentalen Erschöpfung lag. Ich war einfach zu aufgekratzt. Dieses Geflecht aus Irrtümern, Unterlassungen, Mythen und Lügen, das anscheinend mein Leben darstellte, gab mir sehr zu denken. Morgen früh würden wieder die netten kleinen Anforderungen des Lebens an meine Tür klopfen, aber ich war nicht bereit, irgend etwas Neues anzufangen, solange ich nicht
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