Neville, Katherine - Der magische Zirkel
alkohol- und koffeinfreien Kost der Heiligen der Letzten Tage zu opfern.
Als wir uns das erste Mal begegneten, erklärte mir Olivier, er habe bereits gewußt, daß ich in sein Leben treten würde, denn ich war ihm kurz zuvor in einem Traum als Heilige Jungfrau erschienen, die mit dem Propheten Moroni um die Wette flipperte. Am Ende unserer ersten gemeinsamen Arbeitswoche erhielt er ein Zeichen, daß mir ein billiger Mietpreis offeriert werden sollte, damit ich in seine Souterrainwohnung einzog. Der Flipperapparat, an dem ich als Jungfrau Maria den Propheten geschlagen hatte, wurde wunderbarerweise Wirklichkeit in Gestalt einer Neuerwerbung der unweit von unserem Büro gelegenen Cowboy-Bar.
Vielleicht lag es an der verrückten Art und Weise, wie ich aufgewachsen war, daß ich Olivier als Erfrischung empfand nach einem Arbeitstag in einer Nuklearanlage voll von Ingenieuren und Physikern, die alle ihre braunen Lunchtüten mitbrachten und um fünf Uhr nach Hause gingen, um mit ihren Kindern die Wiederholungen harmloser Fernsehserien zu sehen. Die Partys, zu denen ich ging, fanden stets in den Häusern von «Firmenfamilien» statt. Im Sommer wurden im Garten Hamburger und Würstchen gegrillt; im Winter gab es im Wohnzimmer Spaghetti, Salat und Knoblauchbrot aus der Tiefkühltruhe. Es sah so aus, als hätte niemand in dieser abgelegenen Hochwüste je von einer anderen Art zu speisen gehört.
Olivier dagegen hatte in Montreal und Paris gelebt und war auf einem Sommerkurs von Cordon Bleu in Südfrankreich gewesen. Als Hausherr ließ er vielleicht ein bißchen zu wünschen übrig in puncto Heizung und Schneeräumen, aber dafür hatte er andere Vorzüge. Während er für die Menüs, die er mindestens einmal die Woche für Jason und mich zubereitete, in seiner riesigen, perfekt eingerichteten Küche hackte, würfelte und rührte, unterhielt er mich mit Geschichten über die großen europäischen Küchenchefs und weihte mich in die neuesten Modetrends in der Cowboy-Szene ein.
«Was war so wichtig, daß du plötzlich verschwinden mußtest?» Oliviers hübsches Grübchenlächeln erschien in der halboffenen Tür zur Treppe. Er fuhr sich durch die braunen Locken und sah mich aus seinen großen dunklen Augen an. «Wo warst du? Der Pod hat jeden Tag nach dir gefragt, aber ich wußte von nichts.»
«Der Pod» war der allgemein gebräuchliche Spitzname meines Chefs, der auch der Leiter der gesamten Nuklearanlage war. Man nannte ihn aber nur hinter seinem Rücken so, denn obwohl er mit richtigem Namen Pastor Owen Dart hieß, hatte er nichts von einem Pastor an sich. Seine Initialen POD wurden auch als «Prince of Darkness» gelesen.
Ich würde gern behaupten, daß dieser Spitzname nicht auf meinen Boss zutraf. Aber um ehrlich zu sein: Von den zehntausend Beschäftigten in der Firma – oder auch von den Industriebossen in Washington, mit denen er auf du und du stand – war ich, soviel mir bekannt war, die einzige, die von ihm noch nicht heruntergeputzt worden war. Zumindest bis jetzt. Der Pod schien mich echt zu mögen. Er hatte mich sozusagen eigenhändig für den Job, den ich jetzt hatte, ausgesucht, als ich noch auf der Uni war. Die Folge dieser unverhofften Zuneigung war, daß mir nicht alle Kollegen trauten – ein weiterer Grund, warum der fesche Mormonencowboy und Gourmet Olivier einer meiner wenigen Freunde war.
«Tut mir leid», sagte ich zu Olivier, während ich heißes Wasser auf den Brei aus braunem Zucker, Butter und Rum in die Punschgläser goß. «Ich mußte so schnell weg. Wir hatten einen plötzlichen Todesfall in der Familie.»
«Oje, hoffentlich niemand, den ich kenne?» sagte Olivier mit einem Lächeln – obwohl wir beide wußten, daß er niemanden aus meiner Familie kannte.
«Es war Sam», sagte ich und versuchte, das Rauhe in meiner Kehle mit dem Grog hinunterzuspülen.
«Großer Gott! Dein Bruder?» sagte Olivier und sank auf das Sofa neben dem Feuer.
«Mein Cousin», berichtigte ich ihn. «Oder eigentlich mein Stiefbruder. Wir sind wie Geschwister aufgewachsen. Er ist mehr mein Blutsbruder. Ich meine, er war…»
«Du liebe Zeit, deine Familienbeziehungen sind aber auch kompliziert», sagte Olivier in Anspielung auf meine übliche Antwort, wenn sich jemand nach meiner Familie erkundigte. «Bist du sicher, daß du mit diesem Burschen tatsächlich verwandt warst?»
«Ich bin seine Alleinerbin», erklärte ich ihm. «Das genügt mir.»
«Gut – dann war er reich, aber kein wirklich enger Verwandter.
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