Neville, Katherine - Der magische Zirkel
zufällig werde ich nächstes Wochenende ganz in deiner Nähe sein – in dem großen Hotel in Sun Valley.»
«Du kommst ins Sun Valley Lodge? Nächstes Wochenende?» sagte ich. «Du kommst von Österreich nach Sun Valley?»
Die Reise von Wien nach Ketchum war auch bei besten Verhältnissen kein Zuckerschlecken. Wegen der hohen Rockies und des unberechenbaren Wetters war es schon schwierig genug, vom nächsten amerikanischen Bundesstaat dorthin zu gelangen. Hatte Laf vergessen, daß er fast neunzig Jahre alt war?
«Laf, so gern ich dich wiedersehen würde nach all den Jahren, aber ich glaube, das ist keine sehr gute Idee», erklärte ich ihm. «Außerdem habe ich wegen der Beerdigung schon eine Woche in der Firma gefehlt. Ich weiß nicht, ob ich mir schon wieder freinehmen kann.»
«Mein Darling», sagte Laf. «Ich glaube, ich weiß, was du mich fragen willst, und ich kenne auch die Antwort. Also bitte, sei dort.»
Als ich im Bett lag und gerade die Augen schließen wollte, erinnerte ich mich an etwas, woran ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Ich sah die feine rote Linie vor mir, die Grey Cloud mit seinem scharfen Messer in mein Bein geritzt hatte, als er mich zum ersten Mal schnitt – eine Reihe winziger rubinroter Blutstropfen. Ich hatte nicht geweint, obwohl ich noch klein war. Noch heute erinnere ich mich an die schöne, überraschend rote Farbe meines Bluts, das aus meinem Körper drang. Aber ich hatte keine Angst.
Als ich einschlief, träumte ich, was ich seit meiner Kindheit kein einziges Mal wieder geträumt hatte. Es war, als hätte der Traum die ganze Zeit irgendwo in den schattigen Winkeln meines Bewußtseins gewartet…
Ich war allein im Wald. Ich hatte mich verirrt. Es war dunkel, und die tropfenden Bäume wurden immer dichter. Ich roch den dampfenden Waldboden und sah im letzten schräg einfallenden Licht den weißlichen Dunst aufsteigen. Die feuchten Tannennadeln bildeten einen schwammigen Teppich unter meinen Füßen. Ich war erst acht Jahre alt. Ich hatte Sam aus den Augen verloren, und dann sah ich auch den Weg nicht mehr. Es wurde zu dunkel, um seinen Spuren zu folgen, so wie er es mich gelehrt hatte. Ich war allem und fürchtete mich. Was sollte ich tun?
Ich war die ganze Nacht bis zum Morgengrauen aufgeblieben. Mein kleiner Rucksack war schon gepackt mit allem, was man meines Wissens m itnehmen mußte: ein Müsliriegel, ein Apfel und ein Pullover. Obwohl ich noch nie eine richtige Wandertour mitgemacht hatte, wollte ich Sam auf dieser Wanderung, seinem ersten tiwa-titmas- Tag, heimlich begleiten.
Sam, der nur vier Jahre älter war als ich, hatte mit diesen Ausflügen begonnen, als er in meinem Alter war. Jetzt war er zwölf. Diese Tour würde seine fünfte sein – alle bisherigen waren ergebnislos verlaufen. Jeder im Stamm betete, daß sie diesmal erfolgreich verlaufen würde, daß er die Vision haben würde. Aber nur wenige wagten es wirklich zu hoffen. Schließlich war Sams Vater, Onkel Earnest, ein Bleichgesicht von weither. Und als Sams Mutter, Bright Cloud, jung gestorben war, hatte der Vater den Jungen aus der Reservation in Lapwai geholt, so daß Sam nicht die richtige Erziehung durch sein eigenes Volk erhalten hatte. Dann hatte der Vater das Unsägliche getan: Er heiratete eine englische Frau, Jersey, die zu viel Feuerwasser trank. Niemand ließ sich täuschen, als sie mit einer Tochter auftauchte, aufhörte zu trinken und in einer großmütigen Laune darauf bestand, daß die Kinder jeden Sommer bei Sams Großeltern im Reservat verbringen sollten. Niemand ließ sich von solchen Tricks täuschen.
Das tiwa-titmas war das wichtigste Ereignis für einen jungen Nez Percé, ob männlich oder weiblich. Es war die Einführung ins Leben und in das Universum. Große Anstrengungen wurden unternommen, um die Vision zu bekommen: heiße Bäder, stundenlanges Schwitzen in Lehmhütten und ausgiebiges Erbrechen zur inneren Reinigung mit Hilfe von Birkenrinde, die man sich in den Hals steckte.
Sam war in diesen Bergen aufgewachsen. Er begrüßte jeden Fels, jeden Bach und jeden Baum wie einen Freund. Und nachdem er schon viermal auf Visionssuche gegangen war, hätte er den Ort auch blind gefunden, während ich nicht einmal den Pfad finden konnte.
Im Traum hörte ich die Geräusche des Waldes näher und näher kommen, während ich durch scharfes Gras und zurückschnellende Zweige bergauf hastete. Etwas Großes bewegte sich hinter einem Baum. Der Wald wurde immer dunkler, aber
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