Neville, Katherine - Der magische Zirkel
unwirtliches Wetter konnten Zoes Begeisterung trüben. Sie durfte bei einem heimlichen Abenteuer mitmachen, noch dazu mit einem neuen Bruder, den sie herumkommandieren konnte. Sie konnte es kaum erwarten, bis das Kindermädchen sie fertig angezogen hatte und sie mich zu den Ställen schleppen konnte, wo wir Kinder, wie ich erfuhr, unsere eigene Kalesche hatten – eine Kutsche mit Verdeck, vor die bereits vier Pferde gespannt waren. Der Kutscher saß auf dem Bock und wartete auf uns. In den anderen Boxen standen weitere Kutschen und ein funkelnagelneues Automobil.
Während wir über die kopfsteingepflasterten Straßen holperten und ich zum ersten Mal einen Eindruck von Wien bekam, sah ich, daß Earnest sic h mehrmals umdrehte und durch das Fenster einen Blick auf den starren Rücken unseres Kutschers warf. Deshalb hielt ich weiterhin den Mund und wartete ab, obwohl ich immer nervöser wurde. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, welche Gefahr einem zwölfjährigen Kind in einem vornehmen Haushalt wie dem der Behns drohen könnte. Pandora unterbrach meine Gedanken.
«Warst du schon einmal in einem Vergnügungspark?» fragte sie mich lächelnd. «Der Prater – das ist der Wiener Vergnügungspark – war früher fürstliches Jagdgebiet. Heute gibt es dort ein Riesenrad und Karussells.»
«Papa erlaubt uns nicht, in den Prater zu gehen», sagte Zoe. Sie schien es zu bedauern.
«Er sagt, da gehen nur Arbeiter hin, die Bier trinken und Wurst essen», erklärte Earnest. «Und als ich gesagt habe, daß die Arbeiter im Winter vielleicht nicht hingehen, hat Vater gesagt, daß der Prater im Winter geschlossen ist – sogar das Riesenrad.»
«Euer Vater hat halb recht und halb unrecht», sagte Pandora. «Der Prater ist im Winter geschlossen, aber ich habe besondere Verbindungen, die vom Wetter unabhängig sind.»
Als wir den Prater erreichten, war es bitterkalt geworden. Alles sah öde und verlassen aus. Am Eingang waren Schranken heruntergelassen, so daß wir nicht mit dem Wagen zum Riesenrad fahren konnten. Zoe war sehr enttäuscht.
«Es ist nicht weit», sagte Pandora. «Lafcadio, du nimmst Zoe auf die Schultern. Weiter drinnen im Park wird der Schnee nicht so hoch liegen.»
Wir ließen den Kutscher mit den Pferden im Schutz einer Eisenbahnbrücke in der Nähe des Nordbahnhofs zurück, und dann stapften wir, Pandora mit hochgerafften Röcken, ich mit Zoe auf den Schultern, durch den Schnee und um die Schranken herum in die stillen weißen Arkaden des Parks. Als wir die breite Hauptallee mit den sich darüber wölbenden Bäumen erreichten, wo die Wege geräumt waren, setzte ich Zoe ab.
«Lafcadio, nun können wir dir erzählen, was wir dir gestern abend nicht sagen konnten», sagte Earnest. «Siehst du, Vater wollte nicht, daß du nach Wien kommst. Es hat deshalb einen furchtbaren Streit gegeben. Wenn Pandora nicht gewesen wäre, hättest du nicht kommen dürfen.»
Wegen mir hat es Streit gegeben? Ich sah Pandora fragend an.
«Wieviel weißt du über deinen Stiefvater?» fragte sie. «Praktisch nichts. Ich habe ihn und meine Mutter fast acht
Jahre lang nicht gesehen», antwortete ich, wobei es mir nicht gelang, meine Verbitterung zu unterdrücken. Obwohl mich schon der Gedanke, der gesetzlich anerkannte Sohn von Hieronymus Behn zu sein, wütend machte, war es mir peinlich, dies vor seinen leiblichen Kindern zu sagen.
«Zoe und ich, wir kennen unseren Vater auch nicht sehr gut», sagte Earnest und stieß mit seinem glänzend polierten Stiefel in den Schnee. «Er ist immer auf einer Konferenz oder in wichtigen Geschäften unterwegs. Aber mit Mutter sind wir auch nie allein. Immer sind mein Lehrer oder Zoes Kindermädchen oder die Diener dabei – wie gestern abend.»
«Eure Mutter ist praktisch eine Gefangene in ihrem eigenen Haus», sagte Pandora, aber als sie mein Gesicht sah, fügte sie hinzu: «Ich meine damit nicht, daß sie im Speicher eingesperrt ist. Aber seit die Familie vor acht Jahren nach Wien gezogen ist, wurde sie nicht mehr allein gelassen.
Sie wird von mehreren Dienstboten bewacht, die sogar ihre Post lesen. Sie hat keine Freunde, bekommt keine Besuche und geht nie ohne Begleitung aus dem Haus…»
«Aber Sie sind doch ihre Freundin», sagte ich. Ich hatte mich in all diesen Jahren immer wieder gefragt,
warum mich meine Mutter verlassen, ihre beiden anderen Kinder aber bei sich behalten hatte. Ich glaubte – oder wollte glauben –, daß mein Stiefvater dahinter steckte. War er tatsächlich
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