Neville, Katherine - Der magische Zirkel
zwei neue Bekannte: meine Halbgeschwister Earnest und Zoe. Zoe zappelte auf ihrem Stuhl herum, zerrte an ihren blonden Korkenzieherlocken und versuchte, die sorgfältig gebundenen Schleifen aus ihrem Haar zu ziehen.
«Mami will nicht, daß ich Schleifen trage», sagte sie vorwurfsvoll. «Sie ist sehr krank, und die Schleifen kratzen sie, wenn ich sie küsse.»
Dieses Kind hatte irgendwie nicht das Wesen eines sechsjährigen Mädchens. Während der ernste Earnest wie ein Südafrikaner näselte was ich mir in den acht Jahren in einem österreichischen Internat abgewöhnt hatte – , sprach dieses kleine Ekel ein aristokratisches Hochdeutsch und benahm sich herrischer als der Hunne Attila.
Ich wußte nicht, was ich empfinden würde, wenn ich meine Mutter nach so langer Zeit, in der ich kaum etwas von ihr gehört hatte, wiedersehen würde. Ich konnte mich kaum noch an sie erinnern und wurde zunehmend nervöser.
Earnest sagte nicht viel und saß nur mit im Schoß gefalteten Händen neben Zoe. Sein Profil war die beinahe makellos schöne Version des gröber gemeißelten Profils seines Vaters, und dazu hatte er das wundervolle Haar unserer aschblonden Mutter.
«Sie stirbt, weißt du», erklärte mir Zoe und wies mit ihrer kleinen Hand auf die bedrohliche hohe Doppeltür auf der anderen Seite des Ganges. «Vielleicht sehen wir sie heute zum letzten Mal.»
«Sie stirbt?» sagte ich und hörte, wie die zwei Worte durch den düsteren Korridor hallten. Mir war, als bildete sich etwas Hartes und Gefühlloses in meiner Brust. Wie konnte meine Mutter sterben? Auf den Fotos, die auf meiner Kommode in der Schule standen, war sie schön und jung. Krank konnte sie sein, aber daß sie sterben würde, darauf war ich nicht vorbereitet.
«Es ist furchtbar», sagte Zoe. «Richtig ekelhaft. Irgend etwas Unheimliches kriecht und wächst in ihrem Kopf. Sie mußten ein Loch in ihren Kopf bohren, damit er nicht platzt – »
«Zoe, hör auf», sagte Earnest leise. Dann sah er mich traurig aus seinen hellgrauen Augen unter den langen dichten Wimpern an.
Ich war völlig schockiert. Aber noch bevor ich mich wieder gefangen hatte, öffneten sich die großen Türen, und Hieronymus Behn trat in den Gang. Mit seinem modischen Backenbart erkannte ich ihn kaum wieder, aber darunter war sein Gesicht straff geblieben. Er schien vollkommen Herr der Lage zu sein, ungerührt von dem entsetzlichen Geschehen hinter jenen Türen.
«Lafcadio, du kannst jetzt hereinkommen und deine Mutter sehen», sagte Hieronymus zu mir. Als ich aufstand, hatte ich weiche Knie. Meine Lippen begannen zu zittern, und der Klumpen rutschte mir wie ein Stück Eis in die Kehle.
«Ich komme mit», erklärte Zoe, die bereits neben mir stand und meine Hand hielt.
Während sie mit mir im Schlepptau auf die Tür zumarschierte, blieb mein Stiefvater stehen, als wollte er uns den Weg versperren. Aber dann stand auch Earnest auf.
Er stellte sich neben uns und sagte ruhig: «Nein, wir Kinder gehen alle zusammen hinein, weil es so für unsere Mutter weniger anstrengend ist.»
«Natürlich», sagte Hieronymus nach einer Pause, die nicht länger als ein Herzschlag war, und trat beiseite, um uns Kinder durchzulassen. Es war das erste, aber nicht das letzte Mal, daß ich erlebte, wie sich Earnest mit seiner ruhigen Art gegen Hieronymus Behn durchsetzte. Earnest war auch später der einzige, der dies fertigbrachte.
Trotz des Reichtums meines v erstorbenen Vaters, trotz unserer großartigen Plantage in Afrika oder der Pracht der zahlreichen Landsitze, die ich in der Umgebung von Salzburg kennengelernt hatte, war ich noch nie in einem so phantastischen Raum gewesen wie in diesem hier hinter der großen Flügeltür. Er war so ehrfurchtgebietend wie das Innere einer Kathedrale: die hohe Zimmerdecke, kostbare Teppiche, luxuriöse Tapeten und Vorhänge, Lampen aus buntem Glas, das in den Farben von Edelsteinen leuchtete, mit Blumen gefüllte Kristallschalen, der weiche Glanz kostbarer Biedermeiermöbel.
Als wir im Flur waren, hatte mir Zoe erzählt, daß die Zimmer in den unteren Stockwerken unseres Hauses schon mit Elektrizität ausgestattet waren. Ich wußte, daß Thomas Alva Edison persönlich zehn Jahre zuvor zum ersten Mal eine elektrische Beleuchtung hier in Wien im Schloß Schönbrunn installiert hatte. Aber das Zimmer meiner Mutter wurde von dem milden gelben Schein von Gaslampen erhellt, und hinter einem niedrigen Glasschirm am anderen Ende des Zimmers brannte ein flackerndes
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