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Neville, Katherine - Der magische Zirkel

Titel: Neville, Katherine - Der magische Zirkel Kostenlos Bücher Online Lesen
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Feuer.
    Doch nie wieder möchte ich einen solchen Anblick erleben wie den meiner Mutter, die in dem riesigen Himmelbett lag mit einem Gesicht, das weißer war als die weißen Spitzenrüschen, die sie umgaben. Sie wog fast nichts mehr. Sie war wie die leere Hülse einer Frucht, die bei der geringsten Berührung zu Staub zerfällt. Die Kappe, die sie trug, konnte nicht verbergen, daß ihr Kopf kahl rasiert war, versteckte glücklicherweise aber, was sonst noch darunter sein mochte.
    Ich hätte nie geglaubt, daß dies meine Mutter war. In meiner Erinnerung war sie eine schöne junge Frau, die mich bis zu meinem vierten Lebensjahr mit ihrer lieblichen Stimme in den Schlaf gesungen hatte. Als sie ihre tränenfeuchten blauen Augen auf mich richtete, wollte ich die Hände vors Gesicht schlagen und aus dem Zimmer laufen.
    Mein Stiefvater lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen, seine kalten Augen starr auf das Bett gerichtet. In der Nähe des Kamins standen Dienstboten in einer Gruppe beisammen; einige schluchzten leise ms Taschentuch oder umarmten einander, während sie zusahen, wie wir Kinder an das Bett unserer Mutter traten. Dann hörte ich Earnests Stimme neben mir.
    «Mutter, Lafcadio ist hier», sagte er. «Er möchte, daß du ihn segnest.»
    Sie bewegte die Lippen, und wieder half Earnest, indem er die kleine Zoe aufs Bett hob. Er goß etwas Wasser in ein Glas und reichte es Zoe, die es Tropfen für Tropfen auf die ausgetrockneten Lippen meiner Mutter träufelte. Die Kranke versuchte etwas zu sagen, und Zoe übernahm es, das kaum vernehmbare Flüstern zu übersetzen. Ich fand es gespenstisch und unnatürlich, die vielleicht letzten Worte meiner sterbenden Mutter aus dem Mund einer Sechsjährigen zu hören.
    «Lafcadio», sprach meine Mutter durch Zoe, «ich segne dich. Es tut mir sehr leid, daß wir so lange getrennt waren. Dein Stiefvater dachte… Wir dachten, es sei das Beste für… deine Erziehung.»
    Selbst das Flüstern schien sie ungeheuer anzustrengen. Ehrlich gesagt, ich betete, daß sie zu schwach sein möge, um fortzufahren. Ich hatte mir m all den Jahren so oft ein Wiedersehen mit meiner Mutter vorgestellt, aber keines wie dieses: ein Abschied vor weinenden Zuschauern und im Kreis einer mir völlig fremden Familie, die mich zum letztmöglichen Zeitpunkt geholt hatte. Es war tatsächlich makaber; ich konnte kaum erwarten, daß es vorbei sein würde. Ich war so verwirrt, daß ich beinahe etwas Wichtiges überhört hätte.
    «…deshalb hat dein Stiefvater angeboten», plapperte Zoe meiner Mutter nach, «dich zu adoptieren und die Verantwortung für dem Wohl und deine Erziehung zu übernehmen, als wärst du sein leiblicher Sohn. Ich hoffe, daß ihr wie Vater und Sohn zueinander seid. Ich habe die Dokumente erst heute unterschrieben. Du bist jetzt Lafcadio Behn und gleichrangig mit deinen Geschwistern Earnest und Zoe.»
    Er hatte mich adoptiert! Großer Gott! Wie konnte ich der Sohn eines Mannes werden, den ich kaum kannte? Hatte ich bei dieser Sache nicht auch mitzureden? Sollte dieser schreckliche Opportunist, der sich ins Bett meiner Mutter geschlichen hatte, nun über meine Erziehung, mein Leben und das Vermögen meiner Familie bestimmen? Plötzlich begriff ich voller Entsetzen, daß ich nach dem Tod meiner Mutter keine Familie mehr haben würde. Ich fühlte einen wahnsinnigen Zorn – einen brennenden, verzweifelten Zorn, wie ihn vielleicht nur Kinder empfinden können, die keinerlei Macht über ihr eigenes Schicksal haben.
    Mir schossen die Tränen in die Augen, und ich wollte schon aus dem Zimmer laufen, als sich eine Hand leicht auf meine Schulter legte. Ich dachte, es wäre mein Stiefvater, der irgendwo hinter mir stand; statt dessen erblickte ich ein ganz erstaunliches Wesen mit klaren, wundervoll grünen Augen, in denen ein lustiges Feuer zu funkeln schien. Das von dunklem wallenden Haar umrahmte Gesicht erinnerte mich an Bilder von Wassernixen, von Wesen aus den Tiefen des Meeres, aus glitzernden Zauberwelten. Sie war hinreißend. Ich vergaß Hieronymus Behn, meine Zukunft, meine Verzweiflung – sogar meine Mutter auf ihrem Sterbebett.
    Und dann sagte sie mit einem seltsamen fremdländischen Akzent: «Das ist also unser kleiner englischer Lord Stirling?» Dabei lächelte sie mich an, als hätten wir uns schon immer gekannt. «Erlaube, daß ich mich vorstelle. Ich bin Pandora, die Freundin und Gefährtin deiner Mutter Hermione.»
    Sie sah nicht alt genug aus, um ihre «Gefährtin» zu sein

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