Neville, Katherine - Der magische Zirkel
als Treuhandvermögen angelegt war, sollten deiner Mutter zugute kommen. Nach ihrem Tod sollte es dir gehören. Verstehst du nicht? Sie wird bald sterben! Er hat sich die Verfügungsgewalt über dieses Geld verschafft. Er hat sie gezwungen, die Adoptionspapiere zu unterschreiben, und ihr gedroht, alle Kinder zu enterben, wenn sie sich weigern sollte. Hermione liegt im Sterben und quält sich entsetzlich, weil sie nicht weiß, was aus ihren Kindern wird…»
«Und Earnest und ich wollen mit dir weglaufen», warf Zoe ein.
«Mit mir?» rief ich verblüfft. «Aber ich laufe nicht weg. Wohin soll ich denn weglaufen?»
«Ich dachte, du könntest ein Geheimnis bewahren», sagte Pandora zu Zoe und zupfte sie an einer Haarlocke, die unter ihrer Pelzmütze hervorlugte. Dann sagte sie an mich gewandt: «Ich möchte, daß du meinen Cousin Dacian Bassarides kennenlernst, der dir unseren Plan erklären wird. Im Winter ist er Parkwächter im Prater, und im Sommer…»
Aber mein Verstand schien zu streiken. Der junge Mann in der Seemannsjoppe kam auf uns zu, nahm meine behandschuhte Hand in seine beiden Hände und lächelte mich an, als teilten wir ein intimes Geheimnis – und das war tatsächlich der Fall! Nun war ich vollkommen verwirrt. Aber dann begann sich der Nebel in meinem Kopf zu lichten, und ich begriff allmählich.
Ich hatte nie jemand etwas von meiner heimlichen Leidenschaft erzählt. Seit meiner Ankunft in der Salzburger Schule ging ich jeden Tag nach dem Unterricht in den nahe gelegenen Wald und spielte dort auf einer kleinen Geige – sie war fast ein Spielzeug –, die ich einmal geschenkt bekommen hatte. Nicht einmal die Lehrer kannten mein Geheimnis.
Aber selbst die glühendste Leidenschaft bringt einen mit einem so minderwertigen Instrument irgendwann nicht mehr weiter, ganz zu schweigen davon, daß sich mein Unterricht darauf beschränkte, vor den Türen des Salzburger Festspielhauses zu lauschen. Das änderte sich, als eines Tages, vor fast einem Jahr, ein dunkeläugiger junger Mann durch den Wald kam und so hinreißend auf seiner Geige spielte, daß man vergaß, daß die Töne aus einer Geige kamen. Es war, als würde seine Seele singen, als würden sich die Töne mit der Luft zu einer la ngen, leidenschaftlichen Umarmung vereinen.
Und noch am selben Tag wurde der junge Mann, den ich eben erst als Pandoras Cousin Dacian Bassarides kennengelernt hatte, mein Lehrer. Wir trafen uns wöchentlich mehrmals im Wald, und er zeigte mir mit wenigen Worten, wie man Geige spielt. Er mußte der «Bote» gewesen sein, den Pandora und meine Mutter geschickt hatten, um mich in Salzburg zu finden.
«Deine Mutter hat einen letzten Wunsch für dich, Lafcadio», sagte Pandora, während sie Earnest und Zoe auf das fahrende Karussell half. «Als sie von deiner Begabung erfuhr, betete sie, du möchtest eines Tages ein berühmter Geiger werden – der größte Geiger auf der Welt. Zu diesem Zweck hat sie einen privaten Fonds aufbewahrt, den dein Patenonkel, Mr. Rhodes, für dich eingerichtet hatte und von dem dein Stiefvater nichts weiß. Es ist keine sehr große Summe, aber genug, um deine musikalische Ausbildung zu bezahlen, wenn du soweit bist. Dacian hat sich bereit erklärt, dir in den nächsten Jahren bei der Vorbereitung für die Musikhochschule zu helfen. Wenn dein Vater nicht mehr für deine Ausbildung aufkommen will, werden wir einen Platz finden, wo du wohnen kannst. Würde dir dieser Plan deiner Mutter gefallen?»
Ob mir der Plan gefallen würde? Innerhalb eines Tages hatte sich m eine Welt von innen nach außen verkehrt – das Gefängnis mit meinem Stiefvater als Wärter war einer Zukunft gewichen, in der ich der Erfüllung all meiner Träume entgegensah.
Dann stieg auch ich auf das verschneite Karussell, und die Zeit verging wie im Flug, obwohl wir bestimmt eine Stunde oder noch länger fuhren. Dacian spielte mit kalten Fingern kleine Stücke auf der Geige – denn für die Pfeifenorgel des Karussells fehlte der Dampf, wie er uns erklärte –, und Pandora summte die zweite Stimme durch ihren dicken Schal. Zoe hüpfte und stolzierte um das Karussell herum, während Earnest und ich auf unseren auf und ab schaukelnden Reittieren saßen – ich auf einem Wolf und Earnest auf einem fliegenden Adler.
Nun wurde mein erster Familienausflug durch einen Neuankömmling unterbrochen. Ein Fremder kam durch die Allee aus der entgegengesetzten Richtung, aus der wir gekommen waren.
«Du liebe Zeit, es ist Wolf!» sagte
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