Neville, Katherine - Der magische Zirkel
kenne ich schon seit einiger Zeit, und den Rest kann man sich zusammenreimen. Wie du weißt, bestand meine erste Amtshandlung als Kaiser darin, den Herodes Agrippa aus dem Gefängnis zu entlassen und ihm die Tetrarchien von Lysanias und seinem verstorbenen Onkel Philipp in Syrien zu übertragen. Und König darf er sich jetzt außerdem nennen. Dafür muß er mir aber einen Dienst erweisen.»
Claudius hatte den Eindruck, als hätte Caligula nach diesem ersten Schluck Wein einen klareren Kopf bekommen. Vielleicht war dieser besessene Neffe doch nicht so wahnsinnig, wie es den Anschein hatte. In vino veritas, dachte er und nahm einen weiteren kräftigen Schluck.
«Weißt du», sagte Caligula, «ich habe sechs Jahre bei Großvater in Capreae gelebt, wo ich vieles gesehen und gehört habe. Vor fünf Jahren – vielleicht erinnerst du dich – ließ Tiberius einen ägyptischen Lotsen hierher nach Rom bringen, und dann hat er sich unten auf Capreae selbst mit dem Burschen getroffen…»
«Du meinst den Ägypter, der vor dem Senat erschien und behauptete, er habe eines Nachts, so um d ie Frühlingsäquinoktien, als sie vor der griechischen Küste lagen, jemand rufen gehört, der große Gott Pan sei tot?» sagte Claudius ganz interessiert und trank einen weiteren Schluck.
«Ja, genau den», antwortete Caligula. «Großvater hat nie über dieses Treffen gesprochen. Aber was er von dem Ägypter erfahren hat, das hat ihn verändert – das weiß ich. Ich habe darüber mit dem Mann meiner Schwester Drusilla gesprochen.»
«Der Göttin», merkte Claudius mit einem kleinen Schluckauf an, aber Caligula ging nicht darauf ein.
«Vor fünf Jahren, als mein Schwager Lucius Cassius Longinus hier in Rom Konsul war, diente sein Bruder, ein Offizier namens Gaius Cassius Longinus, bei der Dritten Legion in Syrien. An ebendiesem Wochenende der Frühlingsäquinoktien war er Pontius Pilatus als diensthabender Offizier bei einer offiziellen Hinrichtung zugeteilt, und dabei soll etwas sehr Merkwürdiges geschehen sein.»
«Willst du damit sagen, daß dieses Gerücht über den Tod des großen Gottes Pan etwas mit den wertvollen Gegenständen zu tun hat, nach denen Pilatus gesucht hat?» fragte Claudius, der vom Wein schon etwas benebelt war. «Und weil du von deinem Schwager etwas darüber erfahren hast, hast du Herodes Agrippa aus dem Gefängnis geholt und ihn zum König ernannt, damit er dir hilft, das Geheimnis zu lüften und herauszubekommen, was aus diesen Gegenständen geworden ist. Stimmts?»
«Genau!» rief Caligula und stieß mit dem Donnerkeil in die Luft, als wollte er ihn gegen die Decke schleudern. «Onkel Claudius, du bist vielleicht der Trunkenbold, für den dich alle halten, aber du bist auch ein Genie!»
Er nahm Claudius am Arm und zog ihn neben sich auf die Thronstufen.
«Hör zu, Claudius», fuhr Caligula fort, während er nah an seinen Onkel heranrückte. «Vor fünf Jahren, am Freitag vor dem Äquinoktium, ließ Pilatus einen Juden und ein paar Verbrecher kreuzigen. Er wußte, daß die Leichen nach dem Gesetz vor Einbruch der Nacht abgenommen werden mußten, denn am nächsten Tag war für die Juden Sabbat. Damit sie schneller sterben, bricht man ihnen die Beine, damit die Lunge aussetzt und sie ersticken.»
Claudius dachte, es lag am Wein, den er getrunken hatte, weil ihm das Licht plötzlich so trüb erschien. Und die Augen seines Neffen hatten einen seltsamen Glanz angenommen, während er diesen abstoßenden Vorgang schilderte. Claudius nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Becher.
«Es war die erste Kreuzigung, die Gaius Cassius Longinus erlebt hatte», erzählte Caligula weiter, «und deshalb, als es Zeit wurde, die Gekreuzigten ins Jenseits zu schicken, ritt er einfach vor sie hin und stach dem einen in der Mitte in die Brust, um es hinter sich zu bringen. Aber dann fiel Gaius plötzlich etwas an der Lanze in seiner Hand auf. Einer der Soldaten mußte sie ihm gegeben haben, kurz bevor er die Truppe zur Hinrichtungsstätte führte, denn es war nicht seine Lanze. Diese hier war alt und schartig und schien aus einem primitiven Metall gefertigt. Er weiß noch, daß die Stoßklinge am Lanzenschaft mit so etwas wie Fuchsdarm befestigt war. Aber er machte sich keine weiteren Gedanken, und nachdem die Leichen weggebracht waren, kehrte er zunächst ins Hauptquartier von Pilatus zurück, um dann nach Antiochia aufzubrechen. Pilatus fragte Gaius, ob er die Lanze habe, denn sie sei so etwas wie eine Amtsinsignie, die er
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