Neville, Katherine - Der magische Zirkel
«Wenn man ihr gestattet hätte, es zu erleben!»
Claudius nahm diese raschen und heftigen Gefühlsumschwünge gelassen hin. Er kannte die kaiserliche Familiengeschichte. Verständnisvoll tätschelte er den Arm seines Neffen. Wie der junge Kaiser, den sie alle noch liebevoll Caligula nannten, hatte sich auch Claudius sein Leben lang gefragt, wer in der Familie, die eigene Person eingeschlossen, als nächstes ermordet würde und welches Familienglied dahinter stecken könnte.
Es kursierte zum Beispiel das Gerücht, Tiberius habe, bevor er auf den Thron kam, den Germanicus – den Vater von Caligula und Bruder von Claudius – ermordet, um zu verhindern, daß Germanicus als der rechtsgültig adoptierte Sohn von Tiberius und der von Augustus favorisierte Nachfolger an seiner Stelle den Thron erbte. Aber das war der letzte Todesfall in der Familie, über dessen Ursache nur gemunkelt wurde. Caligulas Brüder Nero und Drusus und seine Mutter Agrippina waren von Tiberius öffentlich verbannt und inhaftiert worden; letztere hatte man verhungern lassen.
«Natürlich werden mich einige als Komplizen verdächtigen», fuhr Caligula fort. Er bezog sich auf den Tod seines Adoptiv-Großvaters. «Es stimmt schon, daß ich zugegen war, als Tiberius im Landhaus in Misenum Station machte. Ich war da, als er in der Nacht plötzlich starb. Er ist zwar an Verstopfung gestorben, nachdem er auf seiner Reise drei Tage lang gegessen und getrunken hat, aber ich gebe zu, es sieht verdächtig nach Gift aus – und der Himmel weiß, daß ich nicht weniger Gründe hatte als jeder andere, den alten Bock abzuservieren. Schließlich hat er beinah jeden beseitigen lassen, mit dem er gespeist hat.»
«Also, wenn es so ist und wenn sie alle glauben, daß du es getan hast», sagte Claudius augenzwinkernd, «dann überlege ich mir, welche wundervollen Belohnungen der Senat und die Bürger von Rom für dich bereithalten werden? Hast du gewußt, daß der Pöbel während der Festlichkeiten zu deiner Thronbesteigung auf den Straßen rief: ‹In den Tiber mit Tiberius!› Wie in den guten alten Tagen des Sejanus: Was hinaufsteigt, muß auch wieder hinunter.»
«Sag das nicht!» rief Caligula. Er ließ Claudius’ Arm los und sah ihn mit einem merkwürdig leeren Ausdruck an. Dann sagte er mit einem Lächeln, das Claudius einen kalten Schauder über den Rücken jagte «Hast du gewußt, daß ich mit meiner Schwester schlafe?»
Claudius war wie vor den Kopf geschlagen. Caligula hatte schon als Kind unter Anfällen gelitten, bei denen er umfiel und Schaum vor dem Mund hatte. Aber jetzt – als er dort in der frischen Luft auf dem grünen Gras des Marsfelds stand, unter dem leuchtendblauen Himmel an diesem scheinbar ganz normalen Frühlingstag –, da begriff Claudius, daß dies kein gewöhnlicher Wahnsinn war und daß er sehr schnell eine Antwort auf die Bemerkung seines Neffen finden mußte.
«Gütiger Himmel!» sagte er glucksend. «Nein, nein, so etwas hätte ich nicht mal vermutet – und was für eine Überraschung! Wirklich, wie hätte ich das annehmen können? Ich meine, du hast gesagt ‹meine Schwester›, aber du hast ja insgesamt drei, und eine ist hübscher als die andere!»
«Die Familie hat wirklich recht, Onkel Claudius», entgegnete Caligula kalt. «Du bist ein vollendeter Trottel. Es tut mir fast leid, daß ich dich zu meinem Ersten Mitkonsul gemacht habe. Du warst mir zwar immer lieber als jeder andere in der Familie, aber ich hätte mir wirklich einen Klügeren aussuchen sollen.»
«Aber diese Ernennung kann doch jederzeit geändert werden – obwohl ich natürlich froh und überglücklich bin über diese Ehre», antwortete Claudius, während er fieberhaft überlegte, war er tun sollte. Er wartete und betete um eine göttliche Eingebung, bis sein Neffe endlich wieder etwas sagte.
«Ich spreche nicht von meiner Schwester.» stieß er flüsternd hervor, obwohl ihn die um das Feld postierten Wachen nicht gehört hätten, selbst wenn er geschrien hätte. «Verstehst du denn nicht? Ich spreche von der Göttin.»
«Ah – die Göttin», sagte Claudius und versuchte, Caligulas brennendem Blick standzuhalten.
«Die Göttin!» kreischt Caligula. Er ballte die Fäuste, und sein Gesicht lief erneut dunkelrot an. «Verstehst du nicht? Ich kann keine Sterbliche zu meiner Kaiserin machen! Sterbliche Geschwister können nicht heiraten! Aber Götter heiraten immer ihre Geschwister – immer! Daran erkennen wir, daß sie wirklich Götter sind,
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