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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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das zu beurteilen. Es könnte sein, dass Ihr Hypothese und Beobachtung verwechselt. Wie auch immer, ich möchte hören, was Ihr zu sagen habt.»
    «Ich habe mich gefragt, ob er nicht ein weiteres Opfer des Mächtigen Riesen sein könnte. Und ich hörte auch einen der Wachsoldaten diesen Gedanken äußern.»
    Der Mächtige Riese war ein berüchtigter, noch immer nicht gefasster Mörder und sehr gefürchtet, da er mehrere Männer auf schreckliche Art zerquetscht hatte.
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    «Das bliebe nachzuweisen», sagte Newton. «Aber nach allem, was ich über seine bisherigen Opfer gehört habe, ist der Mächtige Riese, wenn es denn einen solchen gibt, was ich bezweifle, noch nie auf die Idee gekommen, eine Leiche zu versenken oder ihr auch nur die Füße mit einem Strick zusammenzubinden.»
    «Wieso bezweifelt Ihr, dass es ihn gibt?», fragte ich.
    «Aus dem simplen Grund, dass Riesen so selten sind», sagte Newton, der jetzt mit der Inspektion des Leichnams fortfuhr.
    «Sie stechen per definitionem aus der Masse hervor. Jemand, der so oft gemordet hat wie der Mächtige Riese, muss doch wohl eher unauffällig sein. Merkt Euch meine Worte, Mister Ellis, wenn jener Mörder gefasst wird, wird er nicht riesenhafter sein als Ihr oder ich.
    Aber es ist unbestreitbar, dass dieser Mann hier auf überaus grausame Art getötet wurde. Das ist so klar wie der Beweis für die Wahrheit der alchemistischen Lehre, den er liefert.»
    «Das verstehe ich nicht», gab ich zu. «Wie kann ein Leichnam die Wahrheit der alchemistischen Lehre beweisen, Herr?»
    «Um es drastisch zu sagen, der lebende Organismus ist ein Mikrokosmos. Wenn seine Lebenszeit abgelaufen ist, löst er sich, durch die Einwirkung von Hitze und Luft und schließlich Wasser, am Ende in der Erde auf, im unendlichen Zyklus von Leben und Tod.»
    «Ein aufmunternder Gedanke», sagte ich. «Ich frage mich, wer er war?»
    «Oh, das ist keine Frage», sagte Newton und setzte grinsend hinzu: «Das hier ist Euer Vorgänger. Das ist George Macey.»
    Ehe wir den Keller verließen, bat mich Newton, kein Wort über diese Entdeckung zu sagen, weil er fürchtete, die Neuigkeit könnte die Münzerneuerung noch weiter verzögern.
    «Unter den Münzwerkern herrscht schon genug törichter
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    Aberglaube», erklärte er. «Das würde sie nur noch mehr verwirren und ängstigen, denn sie sind die leichtgläubigsten Menschen, die mir je begegnet sind. Wenn die Identität dieses armen Kerls allgemein bekannt würde, wäre es das Ende aller Vernunft. Und die gesamte Münze käme zum Stillstand.»
    Ich versprach, kein Wort davon zu sagen, war aber doch ein wenig bestürzt, wie glattzüngig mein Herr Mister Osborne und die anderen Tower-Wachen belog, als wir wieder draußen waren.
    «Ich muss mich bei Euch entschuldigen, Mister Osborne. Die Verwesung des armen Kerls ist leider viel zu fortgeschritten, um irgendetwas über ihn sagen zu können, außer dass er nicht dem Mächtigen Riesen zum Opfer gefallen ist.»
    «Aber woher wisst Ihr das, Doktor?»
    «Ich habe die Details jener Morde recht genau verfolgt. In allen Fällen waren die Arme der Opfer gebrochen. Bei unserem anonymen Freund aus dem Graben ist es hingegen nicht so. Die Verletzungen dieses Mannes beschränken sich ausschließlich auf den Brustkorb. Wäre er in die Pranken dieses Mächtigen Riesen geraten, wie bereits geflüstert wird, sollte man auch Armbrüche neben den Rippenbrüchen erwarten. Ihr könnt ihn jetzt einsargen, wenn Ihr wollt.»
    «Danke, Doktor.»
    «Ich glaube, Ellis», sagte Newton und spuckte den Rest seines Kautabaks auf den Boden, «Ihr und ich, wir können jetzt ein Glas gebrauchen, um den Geschmack dieses verdammten Tabaks loszuwerden und vielleicht auch unsere Mägen wieder ins Lot zu bringen.»
    Erst auf dem Weg durch die Water Lane zum Stone Kitchen, dem Tower-Wirtshaus, begannen die Implikationen seiner Lüge mein christliches Gewissen zu belasten.
    «Sir, seid Ihr ganz sicher, dass das George Macey war?», sagte ich. «Ich hätte kaum feststellen können, dass es ein männliches
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    Menschenwesen war, von der Identität des armen Kerls ganz zu schweigen.»
    «Es gibt keinen Zweifel. Ich habe Mister Macey nur ein-, zweimal gesehen, aber mir ist dennoch nicht entgangen, dass ihm mehrere Zähne im Oberkiefer fehlten. Aber wichtiger noch, ihm fehlte auch das erste Glied von Zeige- und Mittelfinger der linken Hand. Das ist eine Verletzung, die überaus typisch für den Tower ist, oder genauer gesagt, für die

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