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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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als er das hörte, das Streicheln des Amtsstubenkaters Melchior einstellte, um aus dem Fenster zu blicken.
    «Ach ja?», bemerkte ich. «Mich wundert, dass nicht mehr Leute da hineinfallen, wo doch der Graben nur mit einem niedrigen Lattenzaun gesichert ist, welcher keine Ziege abhalten würde.»
    Doch Newtons Neugier war durch meine Bemerkung kaum gedämpft. «Es mag Euch entgangen sein, Ellis, aber Menschen, die ins Wasser fallen, machen sich selten die Mühe, sich mit Gewichten zu beschweren», sagte er verächtlich. «Nein, das interessiert mich. Warum sollte jemand einen Leichnam im Festungsgraben versenken, wenn doch die Themse so nahe ist?
    Es wäre doch sicher viel einfacher gewesen, die Leiche hinunter zum Tower-Kai zu tragen und dann die Gezeiten und die Strömung des Flusses ihr Transportwerk tun zu lassen.»
    «Ich enthalte mich jeder Hypothese», zog ich ihn mit seiner eigenen Philosophie auf, was er gutmütig hinnahm. Und dabei hätten wir es vielleicht belassen. Aber von den Münzwerkern, die ein leicht zu ängstigender Haufe waren, hielten viele, sobald sie von der Entdeckung der Leiche hörten, ihre Maschinen an, was meinen Herrn zwang, die Sache mit Mister Hall vorerst beiseite zu schieben und, gemeinsam mit mir, aufzubrechen, um der Sache persönlich nachzugehen.
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    Die Leiche war in einen leeren Keller an der Water Lane gebracht worden, einer parallel zum Fluss verlaufenden Straße, der einzigen zwischen den Befestigungsringen, die nicht zur Münze gehörte. Draußen vor der Kellertür standen, vom Gestank des arg verwesten Leichnams vertrieben, ein Offizier des Festungskonstablers, mehrere Tower-Wachen, der Festungszimmermann und die beiden Schleppfischer, welche die Leiche gefunden hatten. Der Konstabler, Mister Osborne, ein pockennarbiger Bursche, der stets auf seinen Rang pochte und oft so betrunken war, dass er nicht mehr stehen konnte, wies gerade den Zimmermann an, einen billigen Sarg zu zimmern, doch als er meinen Herrn sah, hielt er inne, verdrehte höchst unverschämt die Augen und gab sich überaus belästigt.
    «Potztausend, Sir!», rief er Doktor Newton entgegen. «Was habt Ihr hier zu suchen? Das hier ist Sache der Ordnance. Da ist nichts dran, was die Münze oder Euch anginge, dieser Mann ist nämlich schon tot, den kann man nicht mehr hängen.»
    Newton überhörte diese Beleidigung und verbeugte sich förmlich. «Mister Osborne, nicht wahr? Ich gestehe, ich bin um Antwort verlegen. Ich hatte vor, meine Hilfe bei der Identifizierung dieses Unglücklichen und der Feststellung seiner Todesumstände anzubieten, da wir Mitglieder der Royal Society zumeis t ein wenig Ahnung von Anatomie haben. Aber wenn ich's recht verstehe, wisst Ihr schon alles, was es über diesen armen Kerl zu wissen gibt.»
    Die anderen grinsten, als sie das hörten, denn es war offenkundig, dass Osborne nichts dergleichen wusste und seine Untersuchung auf höchst indifferente und wahrscheinlich sogar vorschriftswidrige Weise geführt hätte.
    «Nun ja, ist nicht das erste Mal, dass jemand zu viel trinkt und in den Graben fällt», sagte er, nicht sonderlich überzeugt. «Da ist nichts Rätselhaftes dran, Doktor.»
    «Meint Ihr?», sagte Newton. «Meine Beobachtung ist, dass
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    Wein und Bier genügen, um einen Mann ins Straucheln zu bringen, sodass es ziemlich überflüssig ist, ihm die Beine zusammenzubinden.»
    «Ihr habt also schon davon gehört», sagte Osborne verlegen. Er nahm den Hut ab und kratzte sich den kurz geschorenen Kopf.
    «Tja, Sir, es ist so, dass er mehr als nur ein bisschen stinkt, verfault wie er ist. Man hält es kaum aus, neben dem armen Kerl zu stehen, geschweige denn zu untersuchen, wer er ist.»
    «Ganz recht, Sir», stimmte ihm einer der Wachsoldaten zu. «Er ist eine Pein für die Augen und für die Nase, das ist er weiß Gott. Wir hatten vor, ihn einzusargen und in den Kamin zu stellen, damit der Gestank abzieht, während der Konstabler ein wenig in der Gegend herumfragt.»
    «Eine ausgezeichnete Idee», sagte Newton. «Nur lasst mich erst sehen, welche Fragen er uns selbst zu beantworten vermag.
    Wenn Ihr gestattet, Mister Osborne?»
    Osborne nickte. «Es ist meine Pflicht, es zu gestatten», knurrte er. «Und ich werde Euch zur Hand gehen.»
    «Danke, Mister Osborne», sagte Newton höflich. «Wenn ich Euch um etwas Kautabak bitten dürfte, um uns gegen den Kadavergeruch zu schützen. Und um ein paar Kerzen, weil wir reichlich Licht brauchen werden, um zu sehen, was wir tun.

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