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Newtons Schatten

Newtons Schatten

Titel: Newtons Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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leicht, sich vorzustellen, dass Henry Walpole oder irgendein anderer gepeinigter Priester im Tower umging. Doch als ich erst einmal zu Hause war und in meinem warmen Bett lag, eine anständige Kerze im Kamin, da dachte ich schon wieder, dass Geister doch nur Ausgeburten der Phantasie waren und ich vermutlich besser daran täte, mich vor jenen Männern aus Fleisch und Blut zu fürchten, die meinen Vorgänger ermordet hatten und noch immer auf freiem Fuß waren und jederzeit wieder zuschlagen konnten.
    Am nächsten Morgen nahm ich ein Skullboot von der London Bridge zur Treppe des York Building. Dort angekommen, fanden ich und andere den Schlamm auf der Anlegestelle gefroren, weshalb ich es für angebracht hielt, die Schiffer darauf hinzuweisen, dass sie die Stufen mit Salz hätten eisfrei halten müssen, damit ihre Fahrgäste ohne Gefahr für Leib und Leben
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    aus dem Boot steigen könnten. Die Schiffer, wettergegerbte, kräftige Männer, lachten jedoch nur, sodass ich, noch pikiert vom Vorabend, da ich, wie ich vermutete, von der Ordnance zum Narren gehalten worden war, blankziehen wollte, dann aber meinen Herrn beim Turm stehen sah und es mir verkniff, den Männe rn den einen oder anderen Stich ins Hinterteil zu verpassen.
    «Ihr tatet gut daran, Euren Zorn im Zaum zu halten», erklärte er, als ich schließlich heil neben ihm auf der Uferböschung stand.
    «Denn es gibt in ganz London keinen unabhängigeren Haufen Männer. Sie halten es allgemein mit der Mäßigkeit, da einem betrunkenen Schiffer niemand trauen würde, aber sie können dennoch überaus heftig werden. Wenn Ihr Euren Degen gezogen hättet, dann hättet Ihr Euch höchstwahrscheinlich im Fluss wiedergefunden. Eine siebenjährige Lehrzeit macht einen armen Mann zu einem höchst unbeugsamen Verfechter seiner Rechte und zum Experten, was seine Pflichten anbelangt und zu diesen gehört das Reinigen der Anlegestellen nun einmal leider nicht.
    Die Themse mit ihren Gezeiten würde jeden, der diese Wege schlammfrei fegen wollte, zum Gespött machen. Die letzte Flut war nur eine Stunde vor Eurer Landung.»
    Ob dieses Vortrags meines Herrn beleidigt, erklärte ich, ich hätte nicht geahnt, dass er so viel über die Londoner Fährschiffer und die ihr Gewerbe beeinflussenden Gezeiten wisse.
    Er lächelte schmallippig. «Über die Fährschiffer weiß ich nur, was die meisten Menschen über alle Londoner Arbeitsleute wissen: dass sie eine Art Pest sind. Über die Gezeiten hingegen weiß ich eine ganze Menge», sagte er. «Ihr müsst wissen, dass ich derjenige war, der sie als Erster erklärt hat.»
    Und auf der kurzen Kutschfahrt hinauf zum Maypole am Strand setzte mir Newton auseinander, wie er aus mathematisch bewiesenen Propositionen die Bewegungen der Planeten, der Kometen, des Mondes und des Meeres deduziert hatte.
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    «Dann ist es also die Gravitationswirkung des Mondes, welche die Gezeiten hervorbringt?», resümierte ich seine weit längere Darstellung dieser himmlischen Phänomene. Newton nickte.
    «Und auf das alles brachte Euch ein fallender Apfel?»
    «In Wahrheit war es eine Feige», sagte er. «Aber ich kann den Geschmack von Feigen nicht ausstehen, wohingegen ich Äpfel liebe. Ich konnte einfach den Gedanken nicht ertragen, dass mir ausgerechnet die Frucht, welche ic h unter allen Früchten der Welt am meisten verachte, eingegeben haben soll, wie sich die Welt bewegt. Und außerdem war es nur der Keim meiner Idee.
    Ich weiß noch, wie ich dachte, wenn die Wirkung der Gravitation bis in den Wipfel eines Baumes reicht, wie viel weiter könnte sie dann noch reichen. Und in der Tat erkannte ich, dass das Einzige, was dieser Wirkung Grenzen setzt, die Größe der Körper selbst ist.»
    Es war klar, dass Newton die Welt anders sah als alle anderen Menschen und ich fühlte mich überaus privilegiert, das Vertrauen eines so bedeutenden Mannes zu genießen. Vielleicht begann ich ja, allmählich ein klein wenig von der herausragenden Brillanz seines Geistes zu begreifen, aber diese Ausführungen machten mir klar, dass mein Unvermögen, mehr von den Theorien selbst zu verstehen, verhinderte, dass wir Freunde wurden. Tatsächlich trennte uns ein solcher Abstand an Wissen und Fähigkeiten, dass Newton für mich das war, was ein Mensch für einen Affen sein muss. Er war in jeder Hinsicht ein Muster an Vollkommenheit, ein menschlicher Probierstein, der Gold von Nichtgold oder Gut von Böse zu scheiden vermochte.
    Die Frage, warum meinem Herrn der Name St.

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