Newtons Schatten
einigen Jahren damit, Charakter, Gemüt und Fähigkeiten eines Menschen aus den Eigentümlichkeiten seiner Handschrift zu erschließen», erklärte Newton. «Man kann sogar den Gesundheitszustand des Schreibers herauslesen. Ob er an einer Sehschwäche leidet oder an irgendeiner Art von Paralyse.
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Angesichts der kühnen, kraftvollen Handschrift auf diesem Blatt und der offenkundig schlechten Gesundheitsverfassung Mister Twistletons dürfte wohl klar sein, dass der Verfasser dieser Botschaft alles andere als ein Irrer war. Und da ist noch ein interessanter Punkt. Dass nämlich der Verfasser dieses Briefes Latein studiert hat.»
«Woraus in aller Welt schließt Ihr das?»
«Die Buchstaben a und e kommen in dem chiffrierten Text dreimal vor und jedes Mal folgt der Schreiber der Konvention, sie zu einem æ zusammenzuziehen. Das bezeichnet einen Diphthong, was eine Koppelung zweier Vokale ist und eine lateinische Aussprache anzeigt. So besagt es beispielsweise, dass man das C im Wort Caesar als ein K aussprechen soll. Ich zweifle daher nicht daran, dass sich der Verfasser dieser Botschaft als ein studierter Mensch erweisen wird, was Mister Twistleton ausschließt, da dessen Bildung eher rudimentärer Natur ist.»
«Aber woher wisst Ihr das? Es kann doch sein, dass er etwas Latein gelernt hat.»
«Wisst Ihr nicht mehr, wie ich ihn, auf seine Schwadroniererei über Krieg und Frieden hin, nach der Bedeutung des lateinischen pace belloque fragte.»
«Doch, natürlich. In Frieden und Krieg. Deshalb stelltet Ihr diese Frage. Ich habe mich schon gewundert.»
«Er kannte sie nicht. Und zwar nicht weil sein Geist verwirrt ist, sondern weil er es schlicht nicht wusste. Ergo hat er kein Latein gelernt.» Newton seufzte. «Ihr seid heute zie mlich schwer von Begriff, Ellis. Seid Ihr wohlauf? Ihr scheint gar nicht Ihr selbst, Sir.»
«Mein Kopfschmerz macht mir zu schaffen, Sir», sagte ich.
«Aber es geht schon», setzte ich hinzu, obwohl ich mich inzwischen wirklich recht krank fühlte.
Wir erreichten Pall Mall, wo uns der geckenhafte Samuel Tuer,
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ein hugenottischer Hutmacher, ansah, als schneiten da zwei Minerva-Vögel in sein Geschäft, während er zweifellos eher Pfauen gewöhnt war, exotische Vögel wie jenen auffallend gekleideten Beau, welcher gerade einen Hut so sorgfältig und konzentriert examinierte, wie Newton oder ich es mit einer gefälschten Münze getan hätte. Von Newton nach Pfauenfedern befragt, klappte Mister Tuer den Deckel eines kleinen, emaillierten Schnupftabakdöschens hoch, schob sich eine Prise in die sensiblen Nasenlöcher und nieste dann eine Antwort des Inhalts, dass er seine gesamten Straußen- und Pfauenfedern von James Chase in Covent Garden beziehe, da dieser der größte und beste Federlieferant in ganz London sei.
Als wir bald darauf Mister Chases Geschäftslokal betraten, welches in einem großen Aviarium mit allen möglichen Arten von Enten, Krähen, Schwänen, Gänsen und Hühnern sowie einigen Pfauen bestand, zog Newton die einzelne lange Feder mit dem schillernden, blau und bronzen eingefassten Auge hervor, welche er aus dem Tower mitgebracht hatte, erklärte, er sei im Dienste des Königs hier und sagte dann: «Man hat mir gesagt, Ihr seid der größte Lieferant exotischer Federn in ganz London.»
«Das stimmt, Sir. Ich bin für Federn, was Virginia für Tabak oder Newcastle für Kohle ist. Ich beliefere alle Kutschmacher, Kielmacher, Polsterer, Bettenbauer und Hutmacher.»
«Dies hier ist die Feder eines blauen indischen Pfauen, richtig?»
Mister Chase, ein langer, dünner, vogelartiger Mann, musterte die Feder nur kurz, ehe er Newton zustimmte. «Ja, Sir. Ganz recht, das ist ein blauer.»
«Könnt Ihr mir sonst noch etwas darüber sagen?»
«Hat nie auf einem Hut gesessen, wie es aussieht, denn sie ist nicht beschnitten. Ist ein ziemlich seltener Vogel, der Pfau, obwohl er bei einigen reichen Leuten beliebt ist. Aber Pfauen haben einen schlechten Charakter, Sir und man muss sie
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getrennt von anderem Federvieh halten. Außer dass diese Feder von einem meiner Pfauen stammt, kann ich nicht viel darüber sagen, Gentlemen.»
«Sie ist von einem Eurer Vögel?», sagte Newton. «Woran erkennt Ihr das?»
«Nun, am Kiel natürlich.» Mister Chase drehte die Feder um und zeigte uns das hornige, hohle Ende, auf welchem ein einzelner blauer Fleck war. «All unsere Federn sind auf diese Weise markiert», sagte er. «Als Qualitätszeichen. Ob es nun eine
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