Newtons Schatten
geblieben war, befand sich ob des Lärms und Aufruhrs um ihn herum im Zustand höchster Erregung. Und doch erkannte er mich sofort und küsste meine Hand auf eine Art, die mir den Gedanken nahe legte, dass er glaubte, wir seien gekommen, um ihn in die vergleichsweise sichere Welt des Tower zurückzuholen.
«Wie geht es Euren Augen, Mister Ellis?», fragte er prompt.
«Wieder ganz gut, Mister Twistleton. Danke.»
«Tut mir Leid, dass ich sie auszuquetschen versucht habe. Ich kann es nur nicht leiden, wenn man mich anschaut. Ich spüre die Blicke der Menschen, wie andere die Wärme der Sonne spüren.
Als ich Euch angriff, hielt ich Euch irrtümlich für diesen Gentleman hier, von dem ich annehme, dass er Doktor Newton
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ist.»
«Der bin ich, Mister Twistleton», sagte Newton freundlich und ergriff die Hand des armen Menschen. «Doch sagt, warum wolltet Ihr mir die Augen ausquetschen?»
«Meine Augen sind nicht so gut. Aber die Euren, Doktor, sind die heißesten, die ich je gespürt habe. Es war, als ob mir Gott selbst in die Seele starrte. Und es tut mir Leid, Euer Ehren, dass ich das so empfand, weil ich jetzt nämlich sehe, dass Eure Augen gar nicht so erbarmungslos und bar jeder Vergebung sind, wie ich dachte.»
«Ist es Vergebung, die Ihr sucht? Die könnt Ihr gern haben.»
«Mir kann niemand vergeben, Doktor. Ich habe etwas Schreckliches getan. Aber mir ist die gerechte Strafe zuteil geworden, denn mein Verstand ist, wie Ihr seht, dahin. Selbst meine Be ine wollen meinem Kopf nicht mehr gehorchen. Ich kann kaum noch gehen.»
«Was habt Ihr Schreckliches getan?», forschte ich nach.
Mister Twistleton schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht mehr, Sir, denn ich habe mich in den Wahnsinn gestürzt, um es zu vergessen. Aber es war etwas Grässliches, Sir. Weil ich immerfort die Schreie höre.»
«Mister Twistleton», sagte Newton, «habt Ihr Mister Mercer umgebracht?»
«Danny Mercer ist tot? Nein, Sir. Das hätte ich nie getan.»
«Oder vielleicht Mister Kennedy? Habt Ihr ihn im Löwenturm eingeschlossen?»
«Nie und nimmer, Sir. Ich bin ein guter Protestant. Ich will keinem Menschen Böses, Sir. Nicht einmal den Katholiken.
Nicht einmal dem Franzosenkönig Louis, der mich umbringen würde, wenn er könnte.»
«Warum würde er Euch umbringen?»
«Um mich zu einem guten Katholiken zu machen, natürlich.»
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«Kennt Ihr ein Geheimnis?», fragte Newton.
«Ja, Sir. Aber ich habe einen Eid geschworen, es keiner Menschenseele zu verraten. Trotzdem würde ich's Euch sagen, Sir. Wenn ich mich nur erinnern könnte, was ich nicht verraten darf.» Der arme Kerl lächelte. «Aber es wäre möglich, dass es um Waffen ging. Denn ich glaube, ich war der Waffenmeister.»
«Hatte es vielleicht mit Alchemie zu tun?»
«Alchemie?» Mister Twistleton sah verblüfft drein. «Nein, Sir.
Das einzige Metall, das ich je aus dem Feuer geholt habe, waren die Musketenkugeln, die ich selbst goss. Und ich habe in meinem ganzen Leben nur sehr wenig echtes Gold gesehen.»
Newton entfaltete eine Abschrift der verschlüsselten Botschaft, die wir neben Daniel Mercers Leichnam an der Wand der Sally-Port-Treppe gefunden hatten. «Sagt Euch das hier etwas?», fragte er.
«O ja», erklärte der arme Irre nickend. «Das sagt mir eine ganze Menge, Sir. Danke, dass Ihr mich daran erinnert. Ich habe da, glaube ich, eine Botschaft für Euch.» Er kramte in seinen Hosentaschen, zog schließlich einen knittrigen und eselsohrigen Brief hervor und reichte ihn Newton, der ihn kurz studierte und mir dann zeigte, dass er aus einer ähnlich wirren Buchstabenreihung bestand wie die Botschaften, die wir bisher entdeckt hatten. Es hätte sogar ebenjener Brief sein können, den Mister Twistleton damals im Stone Kitchen studiert hatte.
«Aber welche Bedeutung steckt dahinter?», forschte Newton.
«Dahinter?», wiederholte Mister Twistleton. «Blut natürlich.
Blut steckt hinter allem. Wenn Ihr das erst begriffen habt, begreift Ihr alles, was geschehen ist. Das ist das Geheimnis. Ihr solltet das doch wissen, Sir.»
«Wird es noch mehr Blutvergießen geben?»
«Noch mehr? O Sir, es hat ja noch gar nicht richtig angefangen.» Mister Twistleton lachte. «Beileibe nicht. Es wird
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eine Menge Tote geben. Eine Menge Blut. Es ist nämlich so, Sir.
Es hängt davon ab, ob Krieg oder Frieden ist.» Er tippte sich auf die Nase. «Mehr kann ich nicht sagen, weil ich nicht mehr weiß.
Niemand weiß, wann derlei Dinge losgehen.
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