NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)
Digitalisierung uns also eigentlich die Möglichkeit eröffnet hatte, das reichhaltigste Angebot vorzuhalten, aus dem sich noch das geringste Nischeninteresse bedienen ließ, haben die Algorithmen diesen Schweif wieder sukzessive beschnitten. 24 Durch ihre Empfehlungssysteme gelang es, uns immer weiter um das Mengenkompatible zu gruppieren. Und irgendwann gab es nur noch das.
Das zu wollen, was alle wollen, war im Sinne der selbstreferentiellen Verstärkung ‹normal›. Und weil die Menschen sich als Herdentiere Anschluss an ihresgleichen wünschten, funktionierte der Mechanismus perfekt. Die Krankenkassen wussten, wer im Alter von zwölf einmal geraucht hatte, und konnten statistisch nachweisen, dass ein Zusammenhang zwischen einem solchen Vorfall und dem späteren Auftreten von Lungenkrebs herzustellen war. Dadurch wurden enorme Risikoabschläge bei den Versicherungsleistungen möglich, und von den vielen Klagen gegen dieses Vorgehen führte nicht eine einzige zum Erfolg. Die von der Anklage vorgebrachten Zusammenhänge waren ja empirisch beweisbar. Ein Gerichtsurteil zitierte damals abschließend das Statement eines Politikers, der die Anpassung an erwartbare Standards zum Normalfall erklärt hatte: «Das Störungsfreie, Fehlerlose, Funktionierende: Nichts anderes taugt zum Ideal.» 25 Daten wurden glaubwürdiger als Menschen. Sie schienen auch liebenswerter.
Es hat Hinweise gegeben. Auch heftige Reaktionen gegen die Enteignung der Persönlichkeit durch umfassende Datenerhebung und -speicherung . 26 Datenschutz, unter diesem Begriff haben wir das damals diskutiert. Lächerlich. Als obdie Daten jemals bedroht gewesen wären. Menschenschutz hätte es heißen müssen. Der Schutz des Menschen vor sich selbst und seinen Artgenossen. Wir waren ja gerne Gäste im Netz. Wir wollten alle unsere Profile anlegen und pflegen. Und sie machten das Leben auch so einfach. Je aktueller und detailgenauer mein digitales Profil war, desto angenehmer wurde alles. Die für mich algorithmisch ermittelten Empfehlungen für Einkäufe, Freizeitaktivitäten oder Gesundheitsvorsorge wurden immer passgenauer. Wir mussten bald gar nichts mehr tun. Wer wollte, konnte einen Spaziergang in freier Natur unternehmen, aber ansonsten lief das Leben auch sehr gut, wenn man zu Hause am Computer saß.
Es hat dann irgendwann eine politische Bewegung gegeben, deren Maßnahmen helfen sollten, den Menschen zu schützen oder zu disziplinieren. Nur genutzt haben sie nicht viel. Zum Beispiel die «Initiative zur Sicherung von Freiheitsräumen», die eine Koalition von politischen Parteien damals lancierte (ich glaube, die Idee kam nicht von der Partei, die irgendwie das Wort «Freiheit» in ihrem Namen hatte, sondern von den Umweltschützern, ich müsste da schnell eine Suche durchlaufen lassen, aber so wichtig ist das ja jetzt auch nicht mehr). Eine Reihe von Politikern begann sich zu sorgen, dass die meisten Menschen immer mehr mit dem Computer lebten und kaum mehr in die Welt hinausgingen. Sie wollten außerdem die Eigendynamik der algorithmischen Empfehlungssysteme stoppen und den Menschen wieder zu ihrem Recht auf Zufall und Überraschung verhelfen.
Das war damals wirklich eine gesellschaftliche Bewegung – «Für ein Recht auf Zufall und Entdeckung». Hunderttausende Menschen zogen durch die Straßen und hielten Transparente hoch, auf denen dieser Slogan geschrieben stand. Es war die Zeit der zwei Welten, der analogen und derdigitalen. Die Menschen, die noch wesentlich im Analogen lebten, begriffen nicht wirklich, was im Digitalen geschah und dass man die Errungenschaften der analogen Welt nicht auf der Straße, sondern im Netz hätte verteidigen müssen. Und die Digitalisten wollen von der analogen Welt längst nicht mehr viel wissen. Sie wollten es so, wie es war. Da gab es nichts, wofür gekämpft werden musste. Tatsächlich lebten wir ja alle mehr oder minder schon als digitale Profile und waren der konsequenten Analyse unserer Kommunikation, Handlungen und Vorlieben ausgesetzt, auf deren Basis uns dann fortlaufend algorithmisch basierte Vorschläge für Folgekommunikationen, -handlungen und Vorliebenverstärkung gemacht wurden.
[P ROFILE .--. .-. --- ..-. .. .-.. .] Wann immer wir uns ins Netz einloggten – die wenigsten taten das überhaupt noch, denn das Online-Leben war längst zum Normal-und Dauerzustand geworden –, wurden wir zu dem, was unsere Profile über uns sagten. Und da diese Daten überall gespeichert und vernetzt waren,
Weitere Kostenlose Bücher