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entstandenen philosophischen Abhandlung abgelegt und gespeichert ist. Aber irgendwie habe ich den Eindruck, dieser Satz war in seiner Reichweite und Bedeutung begrenzt. Wir haben den Satz als halbironische Selbstkritik mit Blick auf die vom Menschen produzierten Ausnahmesituationen interpretiert, wie zum Beispiel den Krieg oder die Zerstörung der materiellen Umwelt. Wir haben ihn nicht zu Ende gedacht. Nicht historisch betrachtet, und erst recht nicht systemisch betrachtet. Das hätte nämlich bedeutet, darüber nachzudenken, dass der Mensch in der Lage ist, sich friedlich selbst abzuschaffen. So ist es wohl geschehen.
Aber ich greife vor. Ich war bei den vielen Daten, die wir freiwillig und freizügig ins Netz gestellt haben, wissend,dass alles, was einmal dort ist, auf immer dort bleiben wird. 23 Mit dieser Entwicklung haben wir natürlich auch das Tor für diejenigen geöffnet, die etwas weniger individuelle und wohlwollende Motive verfolgten. Wobei, ich weiß nicht, ob es stimmt, was ich hier beschreibe. Wahrscheinlich waren die meisten Bemühungen um Transparenz und Kontrolle durchaus wohlwollenden Antrieben geschuldet.
Es hat damit begonnen, ich glaube, das war um die letzte Jahrtausendwende der Körperzeit, dass die digitale Überwachung Einzug hielt. Ich fuhr damals mit einem Taxi vom Flughafen in San Francisco nach Downtown und beobachtete ein kleines rotes Licht, das vorne neben dem Rückspiegel des Taxifahrers leuchtete. Und als meine Augen ein wenig auf der Suche nach Erklärung hin und her schweiften, sah ich auch den Aufkleber, der von innen an die Frontscheibe geklebt war: «You’re on camera». Im Gespräch hat der Taxifahrer mir erklärt, das sei eine Sicherheitsmaßnahme für ihn, die ihn vor gewalttätigen Fahrgästen schützen solle. Und auf meine Nachfrage, wohin die Bilder denn übertragen würden, sagte er: «Ins San Francisco Police Department.» In dem Moment habe ich zum ersten Mal bewusst darüber nachgedacht, dass diese Kamera nicht nur ihn schützt, sondern auch mich überwacht. Dass ich nun womöglich polizeilich verfolgt werden könnte, würde ich mir auf dem Rücksitz dieses Taxis irgendetwas zuschulden kommen lassen. Aber ich habe auch gedacht, dass diese Form der Überwachung und Kontrolle aus nachvollziehbaren Motiven und zugunsten des Gemeinwohls erfolgt.
Es hat Auseinandersetzungen darüber gegeben, ich habe das alles gespeichert und könnte die Details aufrufen, aber sie sind letztlich langweilig. Irgendwann konnte niemand mehr durch die Straßen einer Stadt laufen, ohne kontinuierlichim Bild einer Kamera zu sein. So wurden wir zu Verfolgten. Im visuellen, nicht im politischen Sinne. Obwohl es mehr war als eine reine Dokumentation von Daten, um im Notfall darauf zugreifen und sie für Ermittlungen herbeiziehen zu können. Gerade das funktionierte nie so recht. Es gab Zeiten, da wurde das Datensammeln mit dem hohen Ziel der Sicherheit vor terroristischen Anschlägen begründet. Nur genau vor diesen Bedrohungen versagte die Analyse. Die Information, die belegen konnte, dass ein Verdächtiger mit Sprengstoff in ein Flugzeug steigen wollte, versank im Wust der erhobenen Daten.
Vom staatlichen Schutz vor dem Ausnahmefall war bald kaum mehr die Rede. Es war die Suche nach dem Allgemeingültigen, nach der Normalverteilung, die Zug um Zug in den Vordergrund rückte. Und es ging darum, dass immer mehr Menschen im Laufe dieser Entwicklung in den Mittelbereich der Gauß’schen Kurve gedrängt wurden. Diejenigen, die an den äußeren Rändern der Streubreite lagen, waren entweder ein Messfehler oder wurden zu Außenseitern, zur Abweichung vom Normalfall. Es war ja alles messbar, analysierbar, dokumentierbar.
Wir haben uns mit Eingriffen herumschlagen müssen, die oft allein aus Datenanalysen abgeleitet waren und meistens die materielle Welt der Menschen betrafen. Jedes kleinste Verkehrsdelikt wurde im Zuge der allgegenwärtigen Überwachung gespeichert, addiert und führte bei einem gewissen Punktestand zur automatischen Aktivierung der Wegfahrsperre im Auto. Der Fahrer musste sich dann zunächst einer Nachschulung mit Prüfung unterziehen, bevor er sein Auto wieder benutzen konnte. Musikproduzenten und Hersteller anderer Güter analysierten en détail die Mainstream-Vorlieben von uns Menschen auf Basis umfänglicher Datensätzeund stützten das Allgemeingängige mit umfänglichen Angeboten, während die minder ausgeprägten Präferenzen immer seltener bedient wurden. Während die
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