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NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)

Titel: NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miriam Meckel
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grenzenlose Euphorie ausgebrochen über das, was nun möglich war, was für immer möglich sein würde. Wir haben erst nach und nach verstanden, dass jeder daran partizipieren, dass es keine Grenzen mehr geben würde. Und dann ist doch etwas geschehen, etwas ist übersehen worden, hat nicht zusammengepasst.
    Jedenfalls sind mit einem Mal alle Empfehlungs-und Prognosesysteme kollabiert, und es konnten keine Analysen mehr prozessiert werden in dem Umfang, wie er ja nun eigentlich der Normalfall und längst unter den Bedingungen der Systemzeit auch notwendig war. Es gibt zu diesem Vorfall eine umfassende Dokumentation, die in der Rückanalyse erstellt worden ist, nachdem das Gröbste wieder in Ordnung gebracht worden war. Und daraus können wir ableiten, was geschehen ist.
    Der große Datencrash ging auf das Problem der Datenderivate zurück. Das waren die Rekombinationen von menschlichen Computerprofilen, die im Übergang von der Körper-zur Systemzeit milliardenfach entstanden sind. Als wir noch in der Körperzeit lebten, haben wir ja geglaubt, jeder Mensch sei eine Person, ein Unikat, unteilbar, nicht kopierbar oder reproduzierbar. Und wir haben diese Annahme auch in den Übergang zur Systemzeit mitgenommen. Nur war es da ganz anders.
    Wenn ein Mensch am Computer und im Netz aktiv war, dann gab es natürlich so etwas wie ein Hauptprofil von ihm, basierend auf seinen wesentlichen Datenpunkten. Aber dabei blieb es nicht. Es gab immer mehr abgeleitete Kombinationen, Mischformen von Profilbestandteilen, die anders gruppiert, geclustert, rekombiniert wurden. Der Menschals Ganzes war für das meiste doch gar nicht nötig. Wichtig war, welche Vorlieben und Fähigkeiten ihn für eine spezielle Empfehlung, ein Produkt, ein Vernetzungsangebot interessant machten. Diese Einzelpräferenzen wurden zu neuen Gruppen, auch zu neuen Profilen zusammengefasst. Und diese Datengruppen begannen bald, sich exponentiell zu entwickeln. Sie machten sich selbständig.
    Ein Mensch aus der Körperzeit war damit im System plötzlich nur noch als Teil eines Produktvorliebenprofils, einer «Search History» oder eines Prozesszeitrasters für bestimmte Verhaltensweisen vorhanden. Umgekehrt steckten in einzelnen Profilen plötzlich viel mehr Datenkombinationen, als ursprünglich antizipiert worden war. Wenn ich es in der Analogie der Körperzeit erklären sollte, und anders geht es gar nicht, dann hatten wir plötzlich Profilaggregate im Netz, in denen sehr viele Menschen zusammengefasst waren, die aber jeweils nur aus einer rechten Hand oder einem Paar Ohren bestanden. Als Profilaggregat konnte diese Gruppe dann Abnehmer für Hunderte rechter Wollhandschuhe oder Millionen von Ohrenschützern sein.
    Zu der Zeit war das Netz vor allem eine riesige Tauschplattform, auf der Daten und Produkte korreliert und gehandelt wurden. Die Profile und Cluster aber, die dazu angelegt, erweitert, neu zusammengesetzt wurden, hatten mit den «realen» Menschen dahinter immer weniger zu tun. Dann begannen die Fehler. Immer mehr Menschen wurden kontaktiert, erhielten Produktangebote, wurden für Versicherungen eingestuft aufgrund von Informationen, die in irgendwelchen Datenderivaten auftauchten, in denen einzelne Spezialinformationen zusammengefasst worden waren. So wurde beispielsweise der Außenminister eines damaligen Staates plötzlich um 300 Prozent in seiner Krankenversicherunghochgestuft, weil seine sexuellen Präferenzen in einem Datenderivat zur erhöhten Aids-Gefährdung aufgetaucht waren. Dass er nicht zur Risikogruppe der Promisken gehörte, war in diesem Profilcluster nicht gespeichert.
    An einem gewissen Punkt war das nicht mehr zu entflechten. Ein Albtraum. Das System hat Initiatoren und Adressaten von Datenabfragen und -analysen einfach nicht mehr identifizieren können. Es hat gerechnet und gerechnet – und dann war alles schwarz.
    Das zu lösen und zu entflechten, war eine Mammutaufgabe. Es hat schließlich eine grundlegende Reform des Adresssystems gegeben, nach der dann jeder einzelne Datenpunkt adressierbar war, sodass es gleichgültig war, in welches Profil oder welches Profilaggregat er gerade eingebaut wurde. Er ließ sich immer dem «Dateneigner» zuordnen. Das war nur eine der größeren Maßnahmen, die den letzten Schritt im Übergang zur Systemzeit hinausgezögert haben. Man kann nie alles ausschließen. Nicht einmal den schwarzen Schwan im weißen Rauschen.
    Ich bin sicher, es ist gelungen, alles wieder in den Regelprozess zu überführen.

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