NEXT: Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns (German Edition)
Aber natürlich kann niemand ausschließen, dass im Zuge dieses Datencrashs auch Daten verlorengegangen sind, die jetzt nicht mehr auffindbar sind, weil sie keinen Adresspunkt zugewiesen bekommen haben. Und manches ist womöglich falsch verknüpft und dann nicht wieder in die richtige Konstellation gebracht worden. Deshalb gibt es immer mal wieder kleine Irritationen. So wie jetzt. Ich versuche gerade herauszufinden, was geschehen ist. Vielleicht sind Bestandteile von mir durch diesen Datencrash auf immer verloren. Vielleicht kann ich mich selbst nicht mehr vollständig hochladen und mit den Daten anderer Menschen abgleichen. Ich werde es nie mehr wissen.
[ ZWEIFEL -- … -- . .. ..-. . .-..] Jetzt war mir kurz, als hätte ich eine Türglocke gehört. Meine Türglocke. Ich öffne die Tür, die wohl auch meine ist, und da steht ein junger Mann, einen Blumenstrauß mit einer Grußkarte in der Hand. Er steht vor mir, der ich beides entgegennehme. Ja, ich glaube, so ist es. Oder so war es. Denn der Strauß ist hier gut sichtbar für mich. Wunderbare rote Rosen, einige der Blüten weit geöffnet. Sie verströmen einen leichten Duft. Und ich kann über die einzelnen Blätter streichen wie über feinen Samt mit kürzesten Härchen, weich und auch ein wenig kühl.
Ist das wirklich hier, was der Blumenbote gebracht hat? War er wirklich dort vor meiner Tür? Habe ich diese Tür geöffnet, um ihn anzuschauen, zu begrüßen und die Blumen dankend anzunehmen? Dann hätte ich ihn einlassen sollen, um ein wenig mit ihm zu plaudern. Ihn zu fragen, ob er Rosen liebt. Ob es ihn traurig macht, dass er alle diese Blumen, die er bringt, nie behalten darf, sondern immer an andere Menschen weitergeben muss. Ich hätte ihn sicher irgendwann gefragt, ob er glaube, die Blumen seien echt. Nicht im Sinne des Unterschieds zwischen echten und Plastikblumen, die es früher einmal gab. Vielmehr hätte ich nach Bestätigung gesucht, dass es diese Blumen tatsächlich gibt. Dass sie da sind, materiell, mit allem, was zu ihnen gehört. Vielleicht hätte ich ihn irgendwann gefragt, ob
er
echt ist.Und vielleicht ist es deshalb besser, dass ich ihn gar nicht erst hereingebeten habe.
Ich glaube, so war es. Aber ich bin mir nicht sicher. Vielleicht war es nur ein Memory-Effekt meines Master Repositories. Die Speicher merken sich Dinge, die längst aus der Wirklichkeit gelöscht sind. Ich kann das nicht mehr überprüfen, aber ich kann danach fragen, ob es so war. Ich gehöre noch zu einer Versionengeneration, die alle Vorgängerversionen archiviert hat. Warum das so ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist es unserer technologischen Integration zu verdanken, die noch schrittweise vollzogen wurde. Ich weiß deshalb, dass es einen Unterschied geben kann zwischen den wahren Rosen, dem Blumenboten und ihrem softwaregestützten digitalen Reenactment. Ausmachen kann ich ihn nicht. Ich kann nur zweifeln. Diejenigen, die weit nach mir in der Systemzeit aktiviert wurden, können das nicht mehr. Sie laufen unter der integrierten Software der Systemzeit. Vielleicht sind sie in der Gewissheit ihrer zweifelsfreien Existenz glücklicher als ich. Ich bin glücklich über die Rosen, woher auch immer sie stammen.
[ GEIST --. .. . ... -] Das war der Moment der Erkenntnis. Garry Kasparov sitzt am Tisch, das Schachbrett vor sich. Er schüttelt den Kopf. Stunden dauert das Spiel bereits an, es läuft nicht gut für den Meister. Er legt die rechte Hand an seine Wange, stützt den Kopf auf. Auf seiner Stirn zeichnet sich breit eine Ader ab. Dann springt er plötzlich auf, läuft weg vom Spieltisch und breitet die Arme aus in einer Geste der Ratlosigkeit und Verzweiflung. Im 45. Zug des zweiten Spiels gegen «Deep Blue» hat Kasparov erkannt, dass er verlieren und der Computer siegen wird. Als er aus dem Raum läuft, flüstert eine Zuschauerin andächtig: «Er weint.» 88
Es war der einzige Moment wahren Empfindens zwischen Mensch und Maschine. Ein Moment der offenen Fragen in Verbindung mit offener Bewunderung und Angst. Ein Augenblick, in dem der Mensch den Computer empfinden konnte. Nicht programmieren, nicht in Frage stellen, nicht verbessern, nicht schrankenlos bewundern. Empfinden. Der empathische Moment zwischen Mensch und Maschine. Es war auch ein Moment der Kapitulation.
Dieses Spiel des Schachgroßmeisters gegen den Computer im Jahre 1997 der Körperzeit war ein Wendepunkt. Der Computer hat den Menschen geschlagen, nicht immer, aber ein einziges Mal war genug, um
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