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Gebäudes hingegen hell waren, konnten die anderen den Wächter im Gegenzug nicht sehen. Aus dieser Konstruktion versprach sich Bentham einen permanenten Überwachungsdruck auf alle Menschen im Gebäude, ohne dass es dafür konkreter Maßnahmen bedurfte. Wohlverhalten und Disziplin ergaben sich aus der vorauseilenden Anpassung der Menschen an das, was geschehen könnte, wenn sie sich nicht erwartungsgemäß verhielten, ohne dass dies jemals eintreffen musste.
Aus den Daten im Master Repository kann ich problemlos begründen, warum Bentham einerseits klug war und warum andererseits seine Befürworter am Übergang zur Systemzeit weniger klug waren, als sie dieses Modell als Metapher für die neue Zeit anführten. Letztlich hat Bentham mit dem «Panopticon» nichts anderes getan, als das vorherrschende Gesellschaftsmodell in seiner Lebensphase der Körperzeit in ein Gebäude zu übersetzen. Tatsächlich haben wir Menschenuns ja früher gegenseitig für eine gewisse Zeitdauer in Gefängnisse gesperrt, um so abweichendes Verhalten zu bestrafen. Unsere Körper wurden weggesperrt, weil ein solcher Zugriff auf unseren Geist nicht möglich war. Wenn aber die ganze Gesellschaft ein Gefängnis ist, das durch permanenten Überwachungsdruck gesteuert wird, sodass die Menschen sich «freiwillig» an die vorgegebenen Erwartungen anpassen, dann braucht man kein Gebäude mehr. Dann ersetzt ein soziales Ordnungsprinzip die Mauern. 75 Und dann ist der menschliche Geist Ziel der Begrenzung. Dafür hat es historisch in der Körperzeit viele Beispiele gegeben. Und insofern war Bentham klug.
In der Systemzeit funktioniert das Modell nicht mehr. Es gibt hier keinen Wächter mehr, der in der Mitte des Netzwerks alle Knoten überwacht. Es gibt nicht einmal mehr eine Mitte. Die Mitte ist immer dort, wo sich in einem bestimmten Augenblick das Zentrum der höchsten Netzwerkaktivität befindet. Wir könnten die Mitte analytisch für eine Nano-oder Attosekunde bestimmen, um aus einem permanenten Transformationsprozess künstlich einen statischen Zustand abzuleiten.
Aber das wäre nur eine Hilfskonstruktion, die der Natur des Netzwerks in der Systemzeit widerspräche. Es gibt also nicht den einen Punkt, von dem aus alle anderen Punkte überwacht werden können. Es gibt alle Punkte, die jeweils mit allen interagieren können. Damit ist die Analogie zum Panopticon schon von ihrem gedanklichen Ausgangspunkt her falsch.
Darüber hinaus ist auch der Zweck der Überwachung aus der Mitte heraus obsolet geworden. Die Überwachung ergibt nur dort Sinn, wo die Beobachtung einer Differenz in einen Vorteil verwandelt werden kann. Also zum Beispiel, indemich das Fehlverhalten eines Überwachten beobachten und ihn dafür bestrafen kann, damit es kein weiteres Mal vorkommt. Oder indem ich durch diese Beobachtung Informationen über andere gewinne, die ich in einen Vorteil (materieller Gewinn, Macht) verwandeln kann. In der Systemzeit gibt es aber keine Informationsdisparitäten mehr. Wo alle Daten zu jedem Zeitpunkt allen zugänglich sind, verfügen alle auch über exakt denselben Wissensstand. Wir leben nicht mehr im Zustand des Kampfes um die Interpretationshoheit. Wir leben als Teil des allumfassenden Ganzen, der vollkommenen Vernetzung und des ubiquitären Wissens. Es gibt nicht Zentrum und Peripherie, es gibt nicht oben und unten, es gibt nicht Wissen und Unwissen. In unserem Panopticon erfüllt sich die egalitäre Einheit.
Wir dürfen unsere Vorfahren nicht dafür kritisieren, dass sie dies nicht gesehen haben. Sie haben es nicht verstehen
können
. Sie waren bildlich gesprochen die Insassen in den Zellen des Panopticons der Körperzeit. Jetzt sind sie versammelt auf dem Aussichtsturm einer stetig wandernden Mitte, von ihren materiellen Beschränkungen befreit, vernetzt mit uns in einer anderen Dimension.
[ DISRUPTION -.. .. ... .-. ..- .--. - .. --- -.] Ich habe unterbrechen müssen. Irgendetwas ist geschehen, während ich hier meine Geschichte erzähle. Ich weiß nicht, was es ist, aber es hat mich rausgeworfen. Fast wie ein Systemabsturz, so wie wir ihn früher kannten. Plötzlich fühlt sich alles tot an, grau, kalt, endlos. Das alles sind seltsame Worte, die in meiner Existenz gar nicht mehr gebräuchlich sind. Aber sie sind jetzt plötzlich da. [C:\TILT].
Das dürfte nicht mehr vorkommen. Aber ich fürchte, es isteine Folge des großen Datencrashs, der uns kurz nach dem Übergang von der Körper-in die Systemzeit ereilt hat. Damals war eine
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