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Nexus

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Titel: Nexus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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‹die Welt überwinden», so hieß der Ausdruck, glaube ich. Dafür muß man natürlich ein neues Bewußtsein erwerben, die Dinge neu sehen. Das ist der einzige Sinn, den man der Freiheit geben kann. Niemand kann frei sein, der von dieser Welt ist. Man muß der Welt absterben, dann wird man ein ewiges Leben finden. Für Dostojewski, wissen Sie, war das Erscheinen Christi von größter Bedeutung, glaube ich. Dostojewski konnte die Idee Gott nur durch die Annahme eines Gottmenschen fassen. Er vermenschlichte die Vorstellung von Gott, brachte ihn uns näher, machte ihn begreiflicher, und machte ihn schließlich, so seltsam es klingen mag, sogar noch gottähnlicher ... Ich muß noch einmal auf den Verbrecher zurückkommen. Die einzige Sünde oder das einzige Verbrechen, das der Mensch begehen kann, ist in den Augen Christi die Sünde wider den Heiligen Geist, die Leugnung des Geistes oder der Lebenskraft, wenn Sie wollen. So etwas wie einen Verbrecher in unserem Sinn gab es für Christus nicht. Er mißachtete den ganzen Unsinn, die Verwirrung der Begriffe und den blanken Aberglauben, unter denen der Mensch schon Jahrtausende ächzt. ‹Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf ihn.› Das bedeutet nicht, daß Christus alle Menschen als Sünder betrachtet. Nein, sondern nur, daß wir alle durchtränkt, gefärbt und befleckt von dem Sündenbegriff sind. Wie ich seine Worte verstehe, haben wir die Sünde und das Böse aus einem Schuldgefühl heraus ins Leben gerufen. Nicht daß die Sünde und das Böse eine eigene Realität hätten! Das bringt mich wieder zu der Sackgasse, in der wir uns jetzt befinden. Trotz aller von Christus verkündeten Wahrheiten ist die Welt jetzt mit Sündhaftigkeit durchlöchert und gesättigt. Jeder verhält sich zu seinem Mitmenschen wie ein Verbrecher. Und so müssen wir, wenn wir uns nicht in einem weltweiten Gemetzel gegenseitig umbringen, die dämonischen Mächte, die uns knechten, bei den Hörnern packen. Wir müssen sie in eine gesunde, dynamische Kraft verwandeln, die nicht allein uns - wir sind so wichtig nicht —, sondern die in uns aufgestaute Lebenskraft befreit. Erst dann werden wir zu leben beginnen. Und leben bedeutet ewig leben, nichts weniger. Der Mensch hat den Tod in die Welt gebracht, nicht Gott. Der Tod ist das Zeichen unserer Verwundbarkeit, nichts mehr.»
    So sprach er unablässig weiter. Ich schlief erst gegen Morgen ein. Als ich erwachte, war Stymer nicht mehr da. Ich fand einen Fünfdollarschein und eine kurze Notiz des Inhalts, ich solle alles vergessen, worüber wir gesprochen hätten, es sei von keiner Bedeutung. «Ich bestelle trotzdem einen neuen Anzug», hieß es zum Schluß. «Sie können den Stoff für mich aussuchen.»
    Natürlich ließ sich alles nicht so leicht vergessen, wie er gemeint hatte. Tatsächlich konnte ich wochenlang an nichts anderes denken als an den «Verbrecher Mensch» oder, wie Stymer es ausgedrückt hatte, «Der Mensch sein eigener Verbrecher».
    Besonders einer der vielen Ausdrücke, mit denen er herumgeworfen hatte, plagte mich unaufhörlich: «Der Mensch, der seine Zuflucht im Geist sucht.» Zum erstenmal stellte ich bei mir einen für sich existierenden Geist in Frage. Der Gedanke, daß womöglich alles Geist sei, faszinierte mich. Er klang revolutionärer als alles, was ich bis dahin gehört hatte.
    Es war zum mindesten sonderbar, daß ein Mann wie Stymer von diesem Gedanken, sich in den Untergrund zu verkriechen, seine Zuflucht im Geist zu suchen, besessen war. Je mehr ich hierüber nachdachte, desto deutlicher fühlte ich, daß er aus dem Kosmos eine große, verblüffende Rattenfalle machen wollte. Als ich ihm ein paar Monate später eine Mitteilung schickte, er möge zur Anprobe kommen, erfuhr ich, daß er einem Gehirnschlag erlegen war, was mich nicht im geringsten überraschte. Sein Geist hatte offenbar die Schlußfolgerungen, die ihm aufgezwungen wurden, zurückgewiesen. Stymer hatte sich geistig zu Tode masturbiert. Damit hörte ich auf, mir über den Geist als letzte Zuflucht Gedanken zu machen. Der Geist ist alles. Gott ist alles. Na und?
3
    Wenn eine Lage so mißlich ist, daß keine Lösung mehr möglich erscheint, bleibt nur Mord oder Selbstmord übrig. Oder beides. Wenn man sich dazu nicht entschließen kann, wird man ein Hanswurst.
    Erstaunlich, wie aktiv man werden kann, wenn man es nur mit seiner Verzweiflung zu tun hat. Es ereignet sich dann weit mehr als sonst. Alles wird dramatisch .. . melodramatisch.
    Mit der

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