Nexus
versuchen. Er hat uns erlaubt, alles über Bord zu werfen, außer den Geist. Im Geist hat die Lebenskraft Zuflucht gesucht. Alles ist bis auf den Nullpunkt analysiert worden. Vielleicht gewinnt jetzt gerade die Leerheit des Lebens Bedeutung und gibt uns Aufschluß, wie es weitergeht.»
Er kam vorerst nicht weiter, sondern verharrte ziemlich lange vollständig unbeweglich, dann stützte er sich auf einen Ellbogen.
«Die verbrecherische Seite des Geistes! Ich weiß nicht, wie oder wo ich diesen Ausdruck aufgefangen habe, aber er bezaubert mich ganz und gar. Er könnte der Gesamttitel für die Bücher sein, die ich schreiben will. Schon das Wort ‹verbrecherisch› erschüttert mich aufs tiefste. Es ist heute ein so bedeutungsloses Wort, doch es ist - wie soll ich sagen? - das ernsteste im Wortschatz des Menschen. Allein der Begriff Verbrechen läßt einen erschauern. Er hat so tiefe, verschlungene Wurzeln. Einst war ‹rebellisch› das große Wort für mich. Wenn ich jedoch verbrecherisch sage, bleibt mir einfach der Verstand stehen. Manchmal, muß ich gestehen, weiß ich nicht einmal, was das Wort bedeutet. Oder wenn ich glaube, ich weiß es doch, dann muß ich das ganze Menschengeschlecht als ein unbeschreibliches Ungeheuer mit einem Hydrakopf ansehen, das den Namen Verbrecher führt. Manchmal drücke ich das für mich selbst anders aus — der Mensch sein eigener Verbrecher , was beinahe sinnlos ist. Ich will nur sagen, obwohl das vielleicht seicht, abgedroschen und allzu vereinfacht ist: wenn es so etwas wie einen Verbrecher gibt, dann ist die ganze Rasse angesteckt. Man kann das verbrecherische Element im Menschen nicht beseitigen, indem man eine chirurgische Operation an der Gesellschaft vornimmt. Das Verbrecherische ist krebsig, und alles Krebsige ist unrein. Das Verbrechen ist nicht nur gleichzeitig mit Gesetz und Ordnung da, es ist sozusagen vorgeburtlich. Es ist im Bewußtsein des Menschen und wird sich nicht daraus entfernen lassen und nicht ausgemerzt werden, bis ein neues Bewußtsein an die Stelle des alten getreten ist. Sage ich es klar genug? Die Frage, die ich mir immer wieder stelle, ist diese: wie kam der Mensch dazu, sich oder seine Mitmenschen als Verbrecher anzusehen? Woher rührt sein Schuldgefühl? Warum ist es so stark, daß sich sogar die Tiere schuldig fühlen? Um es anders auszudrücken, wie kam der Mensch dazu, das Leben schon an der Quelle zu vergiften? Es ist sehr bequem, die Schuld daran den Priestern zuzuschieben. Ich kann nicht glauben, daß sie soviel Macht über uns haben. Wenn wir Opfer sind, sind sie es auch. Aber wessen Opfer sind wir? Was quält uns, Junge wie Alte, Weise sowohl wie Unschuldige? Ich glaube, daß wir das jetzt, da wir in den Untergrund getrieben werden, entdecken werden. Nackt und hilflos können wir uns unbehindert dem großen Problem widmen. Wenn es sein muß, eine Ewigkeit lang. Nichts anderes ist von Bedeutung, sehen Sie das ein? Womöglich nicht. Ich sehe es so klar, daß ich es nicht hinreichend in Worten auszudrücken vermag. Jedenfalls sehen wir jetzt die Welt in dieser Perspektive ...»
Damit stieg er aus dem Bett, um sich etwas zu trinken zu holen, und fragte mich, ob ich seine Faseleien noch weiter anhören könne. Ich nickte zustimmend.
«Sie sehen, ich bin jetzt richtig im Zuge», fuhr er fort. «Jedenfalls ist mir, nachdem ich Ihnen mein Herz ausgeschüttet habe, alles wieder so klar, daß ich mir beinahe zutraue, die Bücher selbst zu schreiben. Wenn ich nicht selbst gelebt habe, bin ich doch in das Leben anderer eingedrungen. Vielleicht komme ich dann, wenn ich zu schreiben beginne, endlich dazu, selbst zu leben. Wissen Sie, ich bin jetzt schon milder gegen die Welt gestimmt, nachdem ich diese Zentnerlast von der Brust habe. Vielleicht hatten Sie recht, als Sie sagten, ich solle etwas freundlicher und großzügiger gegen mich selbst sein. Schon der Gedanke tut einem wohl. Ich habe ein Gerippe aus Stahl in mir. Ich muß weicher werden, Fleisch, Knorpeln, Lymphdrüsen und Muskeln bekommen. Wie man sich nur so erstarren lassen kann — lächerlich, nicht wahr? Das kommt davon, wenn man sich sein ganzes Leben mit anderen herumstreitet.» Er machte eine Pause, um sich einen hinter die Binde zu, gießen, und raste dann weiter.
«In der ganzen Welt gibt es nichts, um das sich der Kampf lohnt, außer den Seelenfrieden. Je mehr man in dieser Welt äußerlich triumphiert, desto größer ist die Niederlage für einen selbst. Jesus harte recht, man muß
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