Nexus
angehäuft habe, müßten Sie öfter leben als einmal. Warum noch Zeit verschwenden? Ach so, etwas vergaß ich zu erwähnen . . . das könnte Sie abschrecken. Es ist dies: Ob die Bücher jemals veröffentlicht werden oder nicht, das ist mir gleich. Ich will sie nur aus meinem Organismus heraushaben. Ideen gehören der ganzen Welt, ich betrachte sie nicht als mein Eigentum ...»
Er trank einen Schluck Eiswasser aus dem Krug, der neben seinem Bett stand.
«All dies kommt Ihnen wahrscheinlich phantastisch vor. Versuchen Sie nicht, sofort eine Entscheidung zu treffen. Überlegen Sie sich die Sache. Betrachten Sie den Vorschlag von allen Seiten. Ich möchte nicht, daß Sie annehmen und dann in ein paar Monaten kalte Füße bekommen. Aber ich will Sie auf etwas aufmerksam machen. Wenn Sie noch lange im gewohnten Geleise weitermachen, werden Sie nie mehr den Mut haben auszubrechen. Es gibt keine Entschuldigung für Sie, Ihre jetzige Lebensweise noch weiter fortzusetzen. Sie folgen nur dem Gesetz der Trägheit, weiter nichts.»
Er räusperte sich, als setzten ihn seine eigenen Bemerkungen in Verlegenheit. Dann fuhr er klar und schnell fort: «Ich bin für Sie nicht der ideale Gefährte, zugegeben. Ich habe jeden nur denkbaren Fehler und bin ganz auf mich selbst eingestellt, wie ich Ihnen schon oft gesagt habe. Aber ich bin nicht neidisch oder eifersüchtig, ja nicht einmal im üblichen Sinne ehrgeizig. Abgesehen von unseren Arbeitsstunden — und ich habe nicht die Absicht, mich zu Tode zu arbeiten - würden Sie die meiste Zeit allein sein und könnten tun, was Ihnen beliebt. Selbst mit mir würden Sie allein sein, auch wenn wir dasselbe Zimmer teilten. Mir ist es gleich, wo wir leben, wenn es nur im Ausland ist. Von nun an ist mein Name Hase, ich weiß von nichts. Ich errichte eine Scheidewand zwischen mir und meinen Mitmenschen. Nichts könnte mich verleiten, weiter an dem Spiel teilzunehmen. Gegenwärtig läßt sich, wenigstens in meinen Augen, nichts Wertvolles erreichen. Um ehrlich zu sein, ich kann womöglich auch nichts erreichen. Aber ich werde wenigstens die Genugtuung haben, das zu tun, woran ich glaube . . . Noch eins , ich habe mich vielleicht nicht ganz deutlich ausgedrückt, was ich mit dieser Dostojewski-Geschichte meine. Sie ist es wert, daß wir noch weiter auf sie eingehen, wenn Sie mir noch zuhören können. Wie ich sehe, ist die Welt mit Dostojewskis Tod in eine ganz neue Daseinsphase eingetreten. Dostojewski hat unter die moderne Zeit den Schlußstrich gezogen - wie Dante unter das Mittelalter. Die moderne Zeit — übrigens eine falsche Benennung — war nur eine Übergangsperiode, eine Atempause, in welcher der Mensch sich dem Tod der Seele anpassen konnte. Schon führen wir in grotesker Weise eine Art lunares Leben. Die Glaubensformen, Hoffnungen, Grundsätze und Überzeugungen, die unsere Kultur aufrechterhielten, sind abgestorben, und niemand wird sie wiederauferwecken. Nehmen Sie das vorläufig in gutem Glauben hin. Nein, von nun an und für lange Zeit werden wir im Geist leben. Das bedeutet Zerstörung . . . Selbstzerstörung. Wenn Sie mich fragen, warum, kann ich nur sagen: weil der Mensch nicht dazu erschaffen war, um im Geist allein zu leben. Der Mensch sollte mit seinem ganzen Wesen leben. Aber die Natur dieses Wesens ist verloren, vergessen, begraben. Der Zweck des Lebens auf der Erde ist die Entdeckung unseres wahren Wesens und das Handeln nach dieser Erkenntnis. Aber damit wollen wir uns jetzt nicht beschäftigen. Das bleibt der fernen Zukunft überlassen. Das Problem ist: Was tun wir inzwischen . Und da kann ich ein Wort mitreden. Ich will mich so kurz wie möglich fassen . .. Alles, was wir - Sie, ich, wir alle - seit Beginn der Zivilisation unterdrückt haben, muß ausgelebt werden. Wir müssen uns als das erkennen, was wir sind. Und was sind wir anderes als das Endprodukt eines Baumes, der keine Früchte mehr tragen kann. Wir müssen deshalb in den Untergrund gehen, wie Samen, so daß etwas Neues, etwas anderes entstehen kann. Wir brauchen nicht so sehr Zeit wie eine neue Anschauungsweise, einen neuen Lebenshunger mit anderen Worten. Jetzt leben wir nur scheinbar. Wir leben nur im Traum. Aber der Geist in uns will sich nicht töten lassen. Der Geist ist zähe - und weit geheimnisvoller als die wildesten Träume der Theologen. Es ist möglich, daß es überhaupt nur Geist gibt... nicht der kleine Geist, den wir kennen, sondern der ‹Große Geist›, in dem wir schwimmen, der Geist,
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