Nexus
welchen Preis! Was für eine erbärmliche Art der Freiheit! Ist es nicht ein Jammer, wieder mit alltäglichen Augen, mit alltäglicher Klugheit in die Welt zu blicken? Ist es nicht herzzerreißend, wenn man sich von bekannten und gewöhnlichen Menschen umgeben sieht? Ist es nicht erschreckend, wenn man denkt, daß man weiterleben muß, wie es so schön heißt, aber mit Steinen im Bauch und Kieseln im Munde? Wenn man Asche findet, nur Asche, wo sonst flammende Sonnen waren, Wunder über Wunder, Herrlichkeit über Herrlichkeit, wie aus einem Zauberbrunnen ohne unser Zutun entstanden?
Wenn etwas wunderbar genannt zu werden verdient, ist es nicht Liebe? Welche andere Macht, welche andere geheimnisvolle Kraft kann einen solchen nicht wegzuleugnenden Glanz in unser Leben bringen?
Die Bibel ist voll von Wundern, und denkende wie gedankenlose Personen haben sie anerkannt. Aber das Wunder, das jeder irgendwann in seinem Leben erfahren kann, das Wunder, das ohne Eingreifen einer höheren Macht, ohne gewaltige Willensanstrengung zustande kommt, das Wunder, das der Tor und der Feigling genauso erleben können wie der Held und der Heilige, ist Liebe. Im Augenblick geboren, lebt sie ewig. Wenn Energie unvergänglich ist, ist es Liebe noch mehr. Wie Energie, die noch immer ein völliges Rätsel ist, ist Liebe immer da, immer gegenwärtig. Der Mensch hat noch kein Quentchen Energie geschaffen, ebensowenig erschuf er Liebe. Liebe und Energie sind immer dagewesen, werden immer dasein. Vielleicht sind sie im Grunde eines und dasselbe. Warum nicht? Vielleicht ist diese geheimnisvolle Energie, die man mit dem Leben des Weltalls gleichsetzt, die Gott in Tätigkeit ist, wie jemand gesagt hat, vielleicht ist diese geheime, alles durchdringende Kraft nur die Manifestation Liebe? Noch erschreckender ist, zu bedenken, daß wenn es nichts im Weltall gibt, das nicht mit dieser unfaßbaren Kraft erfüllt ist, was ist dann mit der Liebe? Was geschieht, wenn die Liebe (scheinbar) verschwindet? Denn die eine ist ebenso unzerstörbar wie die andere. Wir wissen, daß selbst das lebloseste Materieteilchen explosive Energie entwickeln kann. Und wenn ein Leichnam Leben hat, wie wir ja wissen, so hat auch der Geist, der ihn einmal beseelte, Leben. Wenn Lazarus von den Toten auferstand, wenn Jesus sich aus dem Grabe erhob, dann können auch ganze Welten, die jetzt zu existieren aufhören, wiederbelebt werden und werden es auch zweifellos, wenn die Zeit reif ist. Wenn mit anderen Worten die Liebe über die Klugheit siegt.
Wie können wir dann, wenn solche Dinge möglich sind, sagen oder auch nur denken, daß wir die Liebe verlieren könnten? Wenn es uns auch gelingt, für eine Weile die Tür zu schließen, die Liebe wird doch den Weg finden. Und wenn wir kalt und hart wie Mineralien werden, könnten wir doch nicht immer gleichgültig und träge bleiben. In Wirklichkeit stirbt gar nichts. Der Tod ist immer nur scheinbar. Er ist weiter nichts als das Schließen einer Tür.
Aber das Universum hat keine Türen. Sicherlich keine, die nicht von der Macht der Liebe geöffnet und durchschritten werden können. Dies weiß der Tor instinktiv, wenn er seine Weisheit auf quijotische Weise ausdrückt. Und was anders kann der Fahrende Ritter sein, der Gefahren sucht, um sie zu überwinden, als ein Herold der Liebe? Und wer sich ständig Beleidigungen und Ungerechtigkeiten aussetzt, vor was ist der auf der Flucht, wenn nicht vor dem Ansturm der Liebe?
In der Literatur der Einsamkeit findet man immer nur ein Symbol (das sowohl mathematisch wie auch geistig ausgedrückt werden kann), um das sich alles dreht: minus Liebe . Denn das Leben kann (und gewöhnlich wird es) eher auf der Minus- als auf der Plus-Seite gelebt werden. Der Mensch mag weiterkämpfen, wenn auch hoffnungslos, sobald er einmal den Entschluß gefaßt hat, die Liebe auszuschließen. Dieser «tiefe, unergründliche Schmerz der Leere, die noch Leere bleiben würde, selbst wenn die ganze Schöpfung hineinstürzte», diese schmerzliche Sehnsucht nach Gott, wie man sie genannt hat, was ist sie anders als eine Beschreibung des liebelosen Zustandes der Seele?
In eine ähnliche Verfassung war ich nun hineingeschlittert. Ich wurde gefoltert und aufs Rad geflochten. Die Geschehnisse wuchsen mir in beunruhigender Weise über den Kopf. Die Wucht, mit der ich jetzt nach unten und zurückgeschleudert wurde, hatte nichts Natürliches an sich. Was eine Ewigkeit zum Aufbau gebraucht hatte, wurde nun in einem Augenblick
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