Nibelungen 02 - Das Drachenlied
Alberich mit sich. Mit der anderen Hand zerrte sie an der Decke, die auf der Sitzbank des Kutschbocks lag. Alberich wollte protestieren – noch waren seine Freunde in diesem Inferno –, aber dann zwang er sich einzugestehen, daß das Waldfräulein das Richtige tat.
Hastig schoben sie sich über die Erdwälle auf den hinteren Teil der Ladefläche. Dort blieben sie nebeneinander auf dem Bauch liegen. Geist zog die braune Decke über sich und den Zwerg. In der Dunkelheit mochte das als grobe Tarnung ausreichen.
Über den Erdhügel blinzelten sie unter der Decke hervor nach vorne. Die drei Gestalten kamen näher.
Es waren drei Männer, alle groß und massig. Der Mittlere trug eine fremdartige Rüstung aus Gitterwerk. Als er den Kutschbock erreichte, erkannte Alberich, daß sein Panzer aus Geweihenden gewirkt war. Ein eisiger Schauer überkam ihn bei diesem Anblick. Er konnte die Gefahr spüren, die von dem düsteren Geweihmann ausging.
Die Begleiter des Unheimlichen trugen gewöhnliche Kleidung aus Fell und Metallschuppen. Sie hatten keine Helme auf. Ihr Haar wehte lang und strähnig im Nachtwind, ihre Gesichter waren rußig und glänzten vor Schweiß.
Alle drei trugen Breitschwerter, die vom Blut ihrer Feinde glänzten. Auf ihrem Weg zum Tor mußten sie zahlreiche Sklaven erschlagen haben.
Alberich und Geist duckten sich tiefer hinter den letzten Erdwall, als die Männer auf den Wagen sprangen. Einer der Krieger ergriff die Zügel, der Geweihmann rückte neben ihn. Der dritte hockte sich unweit des Zwerges und des Waldfräuleins auf einen Dreckhügel. Wenn sie sich regten, würde er sie unweigerlich bemerken. Auch Abspringen schied aus.
Die beiden Pferde waren immer noch aufgeregt, doch schien der Klang des Hornes nicht dieselbe Wirkung auf sie zu haben wie auf Menschen. Gleich nach der Ankunft der Männer wurden sie ruhiger. Als der Krieger sie jetzt wenden ließ, gehorchten sie und zogen den Wagen vom Turm fort, zurück auf dem selben Weg, den das Gefährt eben erst gekommen war.
Das letzte, was Alberich vom brennenden Turm sah, waren drei weitere Umrisse, die durch das Feuermaul des Tores stolperten: eine schmale, leicht gebeugte Gestalt, ein breitschultriger Riese und ein abgemagertes Mädchen, das er an der Hand führte.
Das kann nicht sein, durchfuhr es Alberich aufgeregt. Oder doch?
Im selben Augenblick riß sich das Mädchen von dem Riesen los und stürmte zurück in die Flammen.
Im selben Augenblick riß Marret sich von Löwenzahn los und stürmte zurück in die Flammen. Ihre dünnen, nackten Beinen drohten über die Leichen zu stolpern, sie schwankte, stolperte, schleppte sich weiter. Ihr Gesicht erglühte im Feuerschein, ihr langes Haar wirbelte wild. Immer wieder öffnete sich ihr Mund, sie rief etwas, und obgleich weder Mütterchen noch Löwenzahn durch ihre Ohrstopfen einen Ton verstehen konnten, so gab es doch keinen Zweifel, wessen Namen sie brüllte.
Mütterchen blickte zurück in die Leichenhölle des Innenhofs, ein Meer aus leblosen Körpern, Sklaven wie Kriegern, die sich im Todeskampf ineinander verschlungen hatten, ungeachtet ihrer Feindschaft. Der Geweihte hatte keinen seiner eigenen Männer geschont, um der Rebellion ein Ende zu bereiten. Niemand, der nicht vor Ertönen des großen Hornes geflohen war oder seine Ohren geschützt hatte, hatte überlebt. Weit über hundert Tote waren es, die darauf warteten, von den Flammen verzehrt zu werden.
Eine besonders häßliche Leiche, die des Grafen Ugo, lag unweit der lodernden Seilwinden. Die erste der hölzernen Konstruktionen war bereits zusammengebrochen, die beiden anderen neigten sich unheilvoll zur Seite. Ihre Haltetaue brannten.
Ausgerechnet am Fuß der einen Winde machte Marret halt. Sie erreichte den toten Ugo im selben Moment, da Löwenzahn alle Vorsicht vergaß und ihr zurück ins Innere der Festung folgte. Mütterchen rief ihm hinterher, vergebens. Sie fluchte heftig und näherte sich abermals dem Tor. Anders als Löwenzahn blieb sie unter dem steinernen Bogen stehen und betrachtete sorgenvoll, wie ihr Freund über die Leichenberge sprang.
Marret beugte sich derweil über ihren einstigen Schützling und drückte sein Gesicht an ihre Brust. Tränen vermischten sich mit Schweiß und Ruß auf ihren Wangen. Die Hitze unweit der brennenden Seilwinden war kaum zu ertragen. Aber sie wollte nicht fort, wollte bei Ugo bleiben, mit ihm sterben, wenn es sein mußte. Er war es, der ihrem Leben Sinn gegeben hatte, die Sorge um
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