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Nibelungen 04 - Das Nachtvolk

Titel: Nibelungen 04 - Das Nachtvolk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Hennen
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zum Eingang des Grabhügels, doch dann lockte ihn die Sonne, und er unternahm den ersten Streifzug über die kleine Insel.
    Das Reich, in dem er gefangen war, war winzig. Nach Norden hin maß die Insel dreihundert Schritt. Von Ost nach West w a ren es nicht einmal hundertfünfzig. Sie bestand fast völlig aus kargem, grauen Fels. Den Grabhügel in ihrer Mitte hatte man aus Torfplatten errichtet, die aus dem Moor gestochen worden waren. Eine gewaltige Arbeit. An seiner höchsten Stelle ragte das Grabmal fast zehn Schritt in die Höhe, und Volker schätzte, daß es einen Durchmesser von mehr als vierzig Schritt haben mußte. Auf dem Hügel wuchsen Gras und einige Blumen. Wind und Regen hatten dem Berg von Menschenhand zug e setzt. An manchen Stellen war Torf herausgespült worden und hatte sich zwischen den zerklüfteten Felsen der Insel abgel a gert. Auch dort wuchs Gras, und wie grüne Adern erstreckten sich die Streifen des Schwemmgrundes bis hin zu dem dunklen Wasser, das statt einer Mauer Volkers Kerker umgab.
    An den ersten beiden Tagen, an denen er sich hinauswagte, genoß er es, der Dunkelheit der Höhle entkommen zu sein. Doch nur allzubald vermochten ihm auch diese Ausflüge aus dem Totenreich keine Freude mehr zu bereiten. Im Gegenteil, sie vertieften nur seine Einsamkeit und seine Verzweiflung. Nicht nur seinen Körper hatte man eingekerkert! Obwohl ihn draußen auf dem Hügel keine Mauern umgaben, war es u n möglich, den Blick über die Weite der Landschaft wandern zu lassen und so wenigstens dem Geiste seine Freiheit zu lassen. Überall zwischen den Felsen der Insel brachen warme Quellen hervor. Wie ein Ring umgaben sie das kleine Eiland, und der dichte Wasserdampf wurde zu einer weißen Mauer. An wa r men, windstillen Tagen stieg der Dunst fast senkrecht über der Insel auf. Dann konnte Volker wenigstens ein Stück des blauen Himmels über sich sehen und den Lauf der Sonne beobachten. Doch sobald sich nur der leiseste Luftzug regte, wurde der N e bel in dichten Schwaden über die Felsen getrieben, und man vermochte kaum noch die Hand vor Augen zu erkennen.
    Gleichzeitig mit dem Blick schien ihm auch sein Geist gefa n gen. Er hatte kaum die Kraft, an Flucht auch nur zu denken. Einmal umrundete er die Insel und versuchte abzuschätzen, von welcher Stelle aus die besten Aussichten bestanden, schwimmend zu entkommen. Doch nirgends war der Schatten eines anderen Ufers auszumachen. Ins Wasser zu gehen hieße, sein Leben dem Schicksal anzuvertrauen. Obendrein war er auch kein sonderlich guter Schwimmer und noch immer durch seine Verwundung geschwächt. Weit würde er also nicht kommen. Er war nie ein Mensch gewesen, der große Pläne machte. Seine Entscheidungen traf er oft aus einer Laune he r aus. Doch wurde ihm auch klar, wie wichtig für all sein Ha n deln ein äußerer Anreiz war. Eine Frau, die ihn entzückte, eine Stadt, die er sehen wollte, ein fernes Land, von dem man ihm Wunderdinge erzählte und das er bereisen wollte. All dies feh l te hier. Seine Welt war im gleichen Maße geschrumpft, wie se i nem Bewegungsdrang und vor allem seiner Sicht Grenzen g e setzt waren. Immer besser konnte er die Neugier verstehen, mit der Neman seinen Geschichten von fernen Ländern lauschte. Ihre einzige Möglichkeit zu reisen war, auf den Flügeln der Phantasie und geleitet durch die Worte eines Barden zu den Wundern fremder Länder zu fliegen.
    Was am schwersten auf Volkers Gemüt drückte, war die Angst um seine Seele als Christenmensch. Mit der Zeit war er sich nicht mehr sicher, ob die Geschichten über die Feen aus den Sümpfen wirklich nur Märchen waren, wie er bislang i m mer geglaubt hatte. Eines war jedenfalls gewiß. Neman war nicht die Anführerin einer Räuberbande. Und doch hatte sie in einem ihrer wenigen Gespräche angedeutet, daß ihre Schwester Macha erst vor kurzem viele Sklaven gefangen hatte. Was den Spielmann ebenfalls verunsicherte, war die Art, wie Neman sich selbst als eine wiedergeborene Göttin bezeichnete. Was für eine infame Ketzerei! Und doch ließ sich nicht leugnen, daß sie über ungewöhnliche Kräfte verfügte. Sie hatte ihn geheilt und den Wundbrand besiegt, dabei hätte kein Medicus, den er kannte, für sein Leben noch einen Pfifferling gegeben. Eine Gö t tin war Neman sicherlich nicht, doch dafür gewiß eine mächt i ge Magierin.
    Volker war den Grabhügel hinaufgestiegen, während er se i nen dunklen Gedanken nachhing. Als er den Zenit erreichte, ließ er sich ermattet ins

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