Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
gegen und genoß es, wenn sie vor ihm saß und mit großen A u gen seinen Geschichten lauschte. Er war sich allerdings nicht sicher, ob es die Einsamkeit war, die ihn so fühlen ließ, oder ob er tatsächlich begann, sich in seine Lebensretterin zu verlieben. Im Grunde hielt er nichts von jener Form der Minne, die ihre Erfüllung in der Anbetung einer Dame fand. Eine Liebe, die nur im Geiste vollzogen wurde, war noch nie sein Ideal gewesen.
Seine Wunde war fast völlig verheilt, und endlose Tage waren verstrichen, seit er auf dem einsamen Eiland gestrandet war, als eines Nachmittags Neman in heller Aufregung zu ihm kam. Er saß im Eingang der Grabhöhle und starrte wie so oft in den wirbelnden Nebel der nahegelegenen Quelle, als sich ihre ve r traute Gestalt aus dem weißen Dunst schälte. Es war das erste Mal, daß ihr das Haar, das sonst stets gekämmt und wohlg e ordnet war, in wirren Strähnen ins Gesicht hing. Atemlos kam sie auf ihn zugelaufen.
»Der Streiter der Morrigan ist heute morgen gestorben. Er war nicht mehr in der Lage, das Beltaine-Feuer zu entzünden. Das ist ein böses Omen. Wenn das Licht, das die Dunkelheit ve r treiben soll, nicht entzündet wird, dann müssen die Ernten auf den Feldern verrotten, und das Vieh wird unfruchtbar bleiben. Nach Sonnenuntergang werde ich mit meinen Jungfern dem Toten das letzte Geleit zu diesem Sidh geben, dem Hügel der toten Helden. Krieger werden bis zum Eingang des Grabes mit uns kommen, und es wird kein Versteck für dich geben, in dem du unentdeckt bleiben kannst.«
Volker stutzte einen Moment und sah sie fragend an. »Du willst mich also von hier fortbringen?« Einer der wenigen For t schritte der letzten Wochen bestand darin, daß sie es duldete, daß er sie mit dem vertrauteren Du ansprach.
Die junge Frau schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Ich habe lange über dich nachgedacht, und ich glaube, daß du tatsäc h lich jener Sänger bist, von dem die alten Geschichten erzählen. So wie es verheißen ist, hast du dich aus den Gräbern der toten Helden erhoben. Man sagt, daß der Sänger Unglück und Ve r änderung bringen wird. Dazu passen der Tod des Streiters der Morrigan und die nicht entzündeten Beltaine-Feuer. Es scheint, als sei ich lange blind für das Offensichtliche gewesen, und auch die anderen werden nichts begreifen können, wenn ich ihnen nicht zeige, was sie sehen wollen.«
Volker hatte keines ihrer Worte verstanden, doch setzte er e i ne ernste Miene auf und nickte zustimmend. Neman griff nach der Öllampe, die im Eingang der Grabhöhle stand, und winkte ihm zu. »Folge mir! Ich muß dich nun auf verbotenen Grund führen. Nur dort werden meine Jungfern in dir den erkennen können, der du wirklich bist.«
Der Spielmann hoffte, daß dies nicht der Fall sein würde, und folgte Neman. Zunächst glaubte er, sie wollte ihn nur ein Stück tiefer in den gewunden Gang führen, um ihm eine Nische zu zeigen, wo er vor den Blicken der anderen Priesterinnen ve r borgen sein würde, doch als ihr Weg sie immer weiter ins Inn e re der Erde brachte, begann er unruhig zu werden. Die Bilder seiner Alpträume standen ihm wieder lebhaft vor Augen. Die tanzenden Toten, die ihn ins Verderben ziehen wollten. Die Mauer aus lebendigem Gebein …
»Wohin bringst du mich, Neman?«
»An den Ort deiner Fleischwerdung, Sänger. Du möchtest doch von hier entfliehen. Dies ist der Weg! Wenn du tust, was ich dir sage, so wirst du noch vor Sonnenaufgang der König meines Volkes sein. Sie wissen Sänger zu schätzen, doch mußt du ihnen in dieser Nacht als das erscheinen, was sie in dir s e hen wollen, sonst bist du des Todes!«
Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Das flackernde Licht der Lampe warf geisterhafte Schatten auf die Wände des Ganges. Überall gab es Nischen, in denen Skelette lagen. Hier und da schimmerte grün angelaufene Bronze und das Braun lange verrosteter Klingen. Es schienen nur Krieger in diesen Gräbern zu liegen, und allen war gemein, daß sie keinen Kopf hatten. Betrieben die Feen etwa auch mit ihren eigenen Helden diesen gräßlichen Trophäenkult? Volker hatte sich das in den letzten Wochen schon oft gefragt, doch wagte er es nicht, Neman darauf anzusprechen.
Warmer Schweiß lief dem Spielmann übers Gesicht. Es schien immer wärmer zu werden, je tiefer sie kamen. Oder war es se i ne Angst …
Plötzlich blieb Neman unvermittelt stehen und hob die La m pe. Ein großer, grauer Stein verschloß den Gang. Es war der Fels, den Volker aus
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