Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
genlinien und die Spirale darunter verraten den Kundigen, daß du bereits viele Feinde getötet hast. Doch das ist nicht genug. Ich werde dich noch weiter bemalen. Du weißt nicht, wie ein Ritter der Morrigan aussieht. Seine Haut ist wie eine Schriftro l le, auf der er seine Geschichte trägt. Die Narbe auf deiner Brust ist ein Teil davon, und auch die anderen Narben werde ich in deine Geschichte einbeziehen.«
Volker verschwieg ihr, daß er sehr wohl wußte, wie ein so l cher Ritter aussah. Der Gedanke daran, nach dem Vorbild des nackten Kriegers hergerichtet zu werden, den er vor dem Tr o phäenbaum gesehen hatte, behagte ihm nicht. Den heidnischen Kulten zu nahe zu kommen mochte ihn sein Seelenheil und se i nen Platz im himmlischen Paradies kosten.
Als Neman endlich fertig war, hatte sie ihn von Kopf bis Fuß mit ihren Zeichen bemalt. Danach hob sie einen eigenartigen Bronzehelm aus einem Haufen von Knochen auf und reichte ihm das alte Rüstungsstück. Der Helm hatte breite Wange n klappen, und ein prächtiger Drache mit ausgebreiteten Flügeln erhob sich auf seinem Kamm. Es war eine meisterhafte Han d werksarbeit.
»Nimm das! Damit wirst du glaubwürdiger aussehen. Dein Schwert magst du behalten. Für einen Krieger ist es immer be s ser, die Waffe an seiner Seite zu tragen, mit der er vertraut ist. Das lederne Wehrgehänge ist deine einzige Kleidung.« Sie bückte sich und wischte mit der flachen Hand ein wenig Staub zusammen. Dann häufte sie ihn auf ihren Handteller und erhob sich. Für einige Herzschläge musterte sie ihn mit gerunzelter Stirn. Schließlich nickte sie. »Du siehst schon fast überzeugend aus.« Sie hob die flache Hand und blies ihm den Staub ins G e sicht.
Fluchend wedelte Volker den feinen Schmutz zur Seite. Seine Augen brannten wie Feuer. »Was soll das, verdammt?«
»Du sollst der Sänger sein, der sich aus den Gräbern der toten Helden erhoben hat. Es steht dir an, ein wenig mit Leichenstaub bedeckt zu sein. So siehst du glaubwürdiger aus.«
Volker schluckte. An die Herkunft des Staubes hatte er noch gar keinen Gedanken verschwendet.
»Du wirst dich zwischen den Gebeinen der Toten verstecken und warten. Wenn ich mit meinen Jungfern zurückkehre, um den Streiter der Morrigan hier zu seiner letzten Ruhe zu betten, dann paßt du einen günstigen Moment ab, um dich zu erheben. Versetze die Weiber in Angst und Schrecken ! Sprich mit hohler Stimme und behaupte, du seiest auferstanden, um dein Volk vor großem Elend zu bewahren. Erzähl eine düstere Geschic h te! Das kannst du ja recht gut … «
»Und was ist, wenn ich einen Fehler mache? Ich meine, ich weiß fast nichts über diesen Sänger.«
»Niemand weiß viel über ihn. Die Legende sagt nur, daß er kommen wird, um unserem Volk in großer Not beizustehen. Du sagtest, du hättest an Fürstenhöfen gespielt … Dies wird der wichtigste Auftritt deines Lebens. Wenn du nicht überzeugend bist, werde ich dich als Betrüger entlarven, und du wirst einen grausamen Tod sterben.«
»Ich könnte verraten, daß du mir das Leben gerettet hast.«
Das Gesicht der Heilerin blieb regungslos. »Niemand würde dir glauben. Ich bin die wiedergeborene Göttin. Mein Wort ist über jeden Zweifel erhaben. Ich werde deine Kleider und de i nen Kettenpanzer im Sumpf versenken. Sie passen nicht zu deiner Rolle und dürfen nicht auf der Insel gefunden werden. Außerdem werde ich oben im Grab und auf der Insel alle Sp u ren beseitigen, die auf dich hindeuten könnten. So wirst du s i cher sein.«
Volker überlegte einen Moment lang, ob er jetzt seine Bege g nung mit Babd erwähnen sollte. Doch wenn die Wäscherin bis jetzt geschwiegen hatte, warum sollte er dann reden?
Neman hatte seine Kleider aufgehoben und war zum Eingang der Grabkammer getreten. »Lösche das Licht der Fackel , wenn ich gegangen bin. Und … « Zum ersten Mal spielte der Hauch eines Lächelns um ihre Lippen. »Viel Glück! Ich würde dich nur ungern verlieren, mein schöner Fremder.«
Mit dumpfem Knirschen rollte der Türstein, der wie der Mahlstein einer Mühle aussah, vor die Pforte der Totenka m mer. Volker löschte das Licht und blieb allein mit seiner Angst und der Dunkelheit.
12. KAPITEL
ls Golo erwachte, hatte er das Gefühl, ein Stier müßte über ihn hinweggetrampelt sein. Jeder Knochen in seinem Leib schmer z te.
»Dem Himmel sei Dank, Herr! Ihr seid wieder bei Euch!« Das Gesicht eines jungen Knappen beugte sich über ihn. »Soll ich den Medicus des Bischofs rufen
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