Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
seinen Träumen kannte. Keuchend atmete der Spielmann aus. Er wünschte, er wäre wieder in jener ve r zweifelten Schlacht, in der er allein mit einer Handvoll Rittern den König verteidigt hatte. Jener laue Sommertag, an dem er dem Tod so nahe wie nie zuvor gewesen war, erschien ihm jetzt, in der Erinnerung, vergleichsweise angenehm. Er hatte das Gefühl, an der Pforte zur Hölle angelangt zu sein.
Neman drehte sich um und hielt ihm die Öllampe hin. »Halt das!« befahl sie knapp und wandte sich wieder dem Felsen zu. Ihre blassen, schlanken Hände glitten über die rauhe, mit fremdartigen Bildern geschmückte Oberfläche des Steins. Sie murmelte etwas in einer Sprache, die der Spielmann noch nie zuvor gehört hatte. Dann drückte sie gegen den Fels, und mit dumpfem Dröhnen rollte der gewaltige Stein zur Seite.
Volker starrte die zierliche Frau mit weit offenem Mund an. Es hätte seiner Meinung nach mindestens der Kraft eines Riesen bedurft, um diese Pforte zu öffnen. Doch die Heilerin machte kein Aufhebens darum. Ohne ein Wort nahm sie ihm die La m pe aus der Hand und trat in die niedrige Kammer hinter dem Tor.
Der Spielmann preßte die Lippen zusammen. Sie war nur ein Weib, und wie er war auch sie nur aus Fleisch und Blut. Wenn sie sich dort hineinwagte, dann würde er ihr folgen! Die Ka m mer, die er betrat, war vielleicht acht Schritt lang und höchstens fünf Schritt breit. Die Decke war so niedrig, daß er den Kopf einziehen mußte. Ein muffiger Geruch nach Staub und Ve r wesung lag in der Luft. Decke und Wände waren mit dicken, grob bearbeiteten Holzbalken verschalt. Die Kammer lag voller Gerümpel, das er in dem schwachen Licht nicht recht zu erke n nen vermochte. An einer der Wände lehnten hohe Karrenräder. Dicht daneben schien ein Thron aus gehämmerter Bronze zu stehen, dazu ein eigenartiges, schmales Bett, das auf einer Längsseite mit einer hohen, sanft geschwungenen Lehne vers e hen war. Zwischen dem Gerümpel lagen Skelette. Manchen hatte man Schwerter und Speere auf die letzte Reise mitgeg e ben. Auch ein großer Bronzeschild lehnte an einem hohen Ke s sel, dessen Rand mit Löwenfigürchen geschmückt war. Neman ging zu einem Ständer, in dem eine halb verkohlte Fackel stec k te, und zündete sie mit dem Docht der Öllampe an. Dann wandte sie sich zu Volker um. »Zieh dich aus!«
Der Spielmann starrte sie fassungslos an. Im Grunde war es das, was er seit Wochen wollte, doch an diesem Ort und …
»Du kannst nicht in deinen Kleidern auferstehen. Man sieht ihnen zu deutlich an, daß sie aus der Welt jenseits des Nebels kommen.«
Volker räusperte sich. »Was soll ich hier unten? Ich meine, das ist kein sonderlich romantischer Ort, und es könnte vie l leicht … «
»Was glaubst du eigentlich, was ich von dir will?« zischte die Heilerin gereizt.
»Nun, dein Befehl läßt doch wohl nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig … «
»Dann befolge ihn!«
Volker blickte ihr in die Augen. Das Gesicht der Heilerin war eine Maske. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst vor einer Frau. Seine Hände glitten zur Schnalle seines Wehrgehä n ges. Er löste den Gürtel und ließ die Waffe zu Boden gleiten. Dann öffnete er sein von dunklem Blut verkrustetes Wams. Als nächstes streifte er die Tunika ab und ließ zuletzt seine Beinli n ge zu Boden gleiten.
Neman zeigte auf seine leinene Bruech. »Ich meine alles, Spielmann. Keiner meiner Krieger trägt so etwas.«
Volker öffnete den Gürtel der knapp geschnittenen Leinenh o se, und die Heilerin lächelte zufrieden. »Kommen wir nun zum nächsten Teil.« Sie nestelte ein kleines Gefäß mit einer breiten Öffnung aus einem der Lederbeutel an ihrem Gürtel. »Du mußt aussehen wie ein Kämpfer, der bereit ist, in die Schlacht zu zi e hen.« Die Heilerin tauchte ihren rechten Zeigefinger in das G e fäß. Als sie ihn wieder hervorzog, war er mit einer blauen Paste verschmiert. Sie trat dicht vor Volker, so daß er jetzt ihren warmen Atem auf dem Gesicht spüren konnte. Er fühlte, wie sich regte, was die Bruech vor den Blicken Nemans hätte ve r bergen sollen. Ihr Zeigefinger strich sanft über seine linke Wa n ge. Dann tauchte sie ihn erneut in das kleine Gefäß.
Volker räusperte sich leise. Sein Mund war staubtrocken. »Was … was machst du da?«
»Ein großer Krieger muß auch die Zeichen eines Kriegers tr a gen. Ich habe das Rabensymbol auf deine Wange gemalt. Es besagt, daß du ein Auserwählter der Morrigan bist. Die Schla n
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