Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
wonnen hatte. Golo begann zu beten. Wäre nur schon alles vo r bei!
Die Lanze des Gegners traf ihn mit voller Wucht. Als erfahr e ner Kämpfer hatte Berengar auf die rechte Hälfte von Golos Schild gezielt, so daß die Spitze der Waffe nicht so leicht abgle i ten konnte. Der Knappe wurde in seinem Sattel nach hinten gedrückt. Seine Schenkel verkrampften sich um Lanzenbrechers Leib. Golo fühlte, wie sich sein rechter Fuß im Steigbügel ve r fing. Dann gab es einen Knall. Splitter schlugen gegen seinen Helm. Berengars Lanze war zerbrochen! Sie mußte bei einem der vorangegangenen Kämpfe Schaden genommen haben. A u genblicklich war der Druck verschwunden. Die beiden Ritter passierten einander. Atemlos erreichte Golo das rettende Ende des Turnierplatzes.
Bei allen Heiligen! Er war gegen einen der berühmtesten Ri t ter der Christenheit angetreten und im Sattel geblieben. Gewiß war ein wenig Glück dabei im Spiel, doch war ihm nun endgü l tig klar, daß diese Ritter auch nur Männer aus Fleisch und Blut waren und es mit ihrer Waffenkunst nicht so weit her war, wie er immer geglaubt hatte. Man konnte sie besiegen! Selbst die besten unter ihnen!
Der Knecht blickte die Reihe der Reiter entlang, die am and e ren Ende des Feldes erneut Aufstellung nahm. Es waren vie l leicht noch fünfzehn Krieger. Auf ihrer Seite sah es gewiß nicht besser aus. Der Ritter mit dem Drachenschild rief nach einem seiner Knappen. Man brachte ihm eine neue Lanze. Berengar zeigte mit der Waffe herausfordernd zu ihm herüber. Golo nickte. Er würde annehmen. Diesmal sollte der Kerl vor ihm im Dreck liegen!
Das Feld war schnell geräumt. Wieder ertönte das Angriff s signal. Diesmal spürte Golo keine Angst mehr. Er hielt den Blick starr auf den Ritter mit dem Drachenschild gerichtet. Fast gleichzeitig senkten sie beide die Lanzen. Es war, als ob ein Feenzauber über dem Turnierplatz läge. Die Bewegungen B e rengars erschienen dem Knecht unnatürlich langsam. So blieb ihm Zeit, mit seiner eigenen Lanze sorgfältig auf die Mitte des gegnerischen Schildes zu zielen. Kurz vor dem Aufprall korr i gierte er mit einem leichten Schwenk noch ein letztes Mal die Richtung. Dann traf die Spitze krachend auf den schwarzen Drachen. Der Normanne neigte den Schild zur Seite. Golo fluchte. Er konnte sehen, wie seine Turnierlanze an der Schräge abglitt. Sein eigener Schild wurde ihm nun mit Wucht gegen die Brust gepreßt. Helle Lichter tanzten in seinem Helm. Plöt z lich sah er nur noch das Blau des Himmels. Einen Herzschlag lang fühlte er sich, als treibe er im Wasser eines langsam dahi n fließenden Stroms. Dann schlug er hart auf den Boden, und ihm wurde schwarz vor Augen.
Volker war auf die Begegnung mit der Wäscherin nie zu spr e chen gekommen. Neman schien nichts davon zu wissen, und er hatte beschlossen, daß es klüger sei, die schweigsame Heilerin nicht zu fragen. Überhaupt vermied er alles, wovon er befürc h tete, daß er damit die junge Frau erzürnen könnte. Statt dessen ließ er seinen Charme spielen und versuchte die Unnahbare zu verführen oder wenigstens für sich zu gewinnen. Niemals z u vor hatte er eine Frau getroffen, die so kalt war. Nie sah er sie von Herzen lachen, und wenn sie lächelte, blieb sie dabei doch stets melancholisch. Vergeblich versuchte er, sie dazu zu bri n gen, von sich zu erzählen. Er erfuhr lediglich, daß sie sich selbst für eine Göttin hielt und noch zwei Schwestern hatte.
Ihre einzige Schwäche war die Liebe für Geschichten aus fe r nen Ländern. Und so verbrachte Volker die vielen einsamen Stunden, die er allein auf der Insel war, damit, stets neue, fa r benfrohe Erzählungen von fremden Ländern zu ersinnen. Er erzählte von den Lotusblütenessern, von denen Homer beric h tet, und von jenem Volk kranichköpfiger Menschen, das der verbannte Herzog Ernst besuchte. Von den Heiligenlegenden der christlichen Kirche wollte Neman nichts wissen. Sie war zutiefst in ihrem Heidentum verwurzelt, und Volker gab es schnell auf, ihre Seele retten zu wollen, indem er sie zum wa h ren Glauben bekehrte. Oft, wenn er allein auf dem Grabhügel saß und in den Nebel starrte, brütete er darüber nach, was diese unnahbare Frau für ihn bedeutete. Ursprünglich hatten seine Bemühungen einzig das Ziel, mit ihr gemeinsam die Insel zu verlassen und so vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht zu erha l ten. Doch diese Gedanken traten mit der Zeit mehr und mehr in den Hintergrund. Sehnsüchtig fieberte er ihren Besuchen en t
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