Nibelungen 04 - Das Nachtvolk
spähte er um die Ecke des Felsblocks, und als er sicher war, daß keine der Priesteri n nen in seine Richtung blickte, eilte er mit einigen schnellen Schritten zum inneren Steinkreis.
Von dort konnte er die Musikantinnen beobachten. Sie sta n den auf den Innenseiten der Felsblöcke und spielten für eine Frau, die in wirbelnden Kreisen über den Platz in der Mitte des Heiligtums tanzte. Es war Neman! Sie trug ein weißes Gewand und drehte sich so schnell, daß ihr weit geschnittener Rock wie ein Wagenrad von ihren Hüften abstand. Das rotblonde Haar leuchtete wie eine Flamme um ihr blasses Gesicht. Sie schien in Trance zu sein. Ihre Augen blickten starr ins Leere. Schweiß rann ihr über die Stirn. Zweimal kam sie so dicht an Volkers Versteck vorbei, daß er sie mit ausgestrecktem Arm hätte gre i fen können.
Plötzlich verstummten alle Instrumente, und Neman blieb wie versteinert stehen. Ganz leise erklang in der Ferne ein Horn. Die Ritter … Sie mußten zum Trophäenbaum gezogen sein! Die Tänzerin stieß einen wimmernden Laut aus und ging in die Knie. Zwei Priesterinnen eilten zu ihr und legten einen weiten, schwarzen Umhang über ihre Schultern. Dann traten sie hastig zurück.
Neman schien von Krämpfen geschüttelt zu sein. Zunächst hörte man noch ein Schluchzen. Sie zog den Mantel enger um ihre Schultern. Mit einem wütenden Schrei erhob sie sich und breitete den Umhang aus, als sei er ein schwarzes Flügelpaar. »Sie haben mich gefordert! Ich werde ihre Köpfe holen, und meine Raben werden ihnen das faulige Fleisch von den Rippen picken!« Die Hohepriesterin blickte in Volkers Richtung, und der Spielmann trat erschrocken einen Schritt zurück. Neman hatte sich verändert. Ihr Gesicht wirkte noch blasser und hatte einen grausamen Zug angenommen. Ihre Augen funkelten und schienen tiefer in den Schädel gesunken zu sein. Auch wirkte ihr Gesicht jetzt länger … Was war das für ein böser Zauber? Blut tropfte von ihren Lippen auf ihr weißes Gewand. Macha sah der Tänzerin Neman zwar noch ähnlich, und doch stand dort ein anderer Mensch in dem Steinkreis. Selbst ihre Stimme war dunkler geworden.
»Ruft die Krieger zusammen und bringt mir meine Waffen! Wir wollen den Tod in das Heerlager der Eindringlinge tr a gen.«
Volker duckte sich und schlich zum äußeren Steinkreis z u rück. Er mußte von hier verschwinden! Die Priesterinnen wü r den nach ihm suchen. Auch er gehörte jetzt zum Rat, und vie l leicht würde seine Stimme in der Versammlung der Krieger sogar den Ausschlag geben. Wenn die Kunde der Boten tatsäc h lich stimmte und ein ganzes Heer am Rand der Sümpfe au f marschiert war, dann wäre es Wahnsinn, die Festung zu verla s sen und anzugreifen. Gegen Hunderte ausgebildeter und be s tens bewaffneter Ritter könnten die wilden Krieger aus den Sümpfen niemals bestehen. Sie würden von den Normannen niedergemäht wie der Sommerroggen vom Schnitter.
Hastig eilte er die Rampe hinauf. Hinter ihm hallten Schritte durch den Nebel. Ohne sich umzublicken, lief er zur Brüstung der Mauer und kletterte über sie hinweg. Seine Füße tasteten über die Wand und suchten nach einem Halt. Endlich fühlte er eine Fuge zwischen den Bruchsteinen, die breit genug war, um seinen Fuß halb hineinzuschieben. Er ließ die Brüstung los und tastete nach einem neuen Griff an der Wand. Den linken Fuß setzte er auf einen der Holzbalken, die aus der Mauer ragten. So arbeitete er sich langsam tiefer. Der Abstieg kam ihm wie eine Ewigkeit vor, und er hoffte inständig, daß sich niemand über die Brüstung beugen würde, um an der Mauer hinabz u blicken.
Der Wind hatte gedreht und kam jetzt vom Meer. Schon wu r den die Nebelschwaden, zwischen denen die Stadt des Nach t volks verborgen lag, lichter. Er mußte schneller vorankommen. Nicht mehr lange, und man könnte ihn vom Hof der Burg aus sehen. Die grasbewachsene Hügelflanke lag nur noch zwei Schritt tiefer. Entschlossen stieß er sich von der Wand ab, land e te federnd auf dem Rasen und rollte sich überschlagend die Böschung hinab, bis die steinerne Rückwand eines Lagerhauses seinen Sturz bremste. Benommen versuchte er, wieder auf die Beine zu kommen, als neben ihm eine Stimme erklang.
»Wißt Ihr nun, was Euch keine Ruhe ließ?«
Volker kniff die Augen zusammen, um die grellen Lichtpun k te zu vertreiben, die vor ihm durch die Luft zu tanzen schienen. Neben ihm stand ein Mann mit schulterlangem, weißen Haar und einem kurz geschorenen Vollbart. Er trug ein
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