Nibelungen 09 - Der Zwergenkrieg
»Kommt mit! Schnell!« Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da verschwand sie schon im nördlichen der drei Gänge. Der Boden war hier leicht abschüssig und machte nach dreißig oder vierzig Schritten eine leichte Linksbiegung.
»Wo läuft sie denn hin?« fragte der Zwerg verblüfft, doch Mütterchen und Löwenzahn hatten sich bereits in Bewegung gesetzt und folgten dem Moosfräulein.
»Steh nicht rum«, rief Mütterchen über die Schulter, »und tu schon, was sie sagt!«
Für Mütterchens alte Augen reichte das Zwielicht des Hohlen Berges nicht weiter als fünfzehn Schritte, dahinter verschmolz alles in trüber Düsternis. Löwenzahn mochte ein wenig besser sehen als sie, wenn auch lange nicht so gut wie Alberich. Doch selbst der Zwerg gab bald zu, daß er Geist aus den Augen verloren hatte.
Mütterchen wunderte sich. Sie hatten ausgemacht, sich vorerst nicht zu trennen, und um so mehr verblüffte sie, daß Geist sich so leichtsinnig von ihnen entfernt hatte. Irgend etwas hatte das Moosfräulein alle Vorsicht vergessen lassen.
»Wohin führt dieser Gang?« fragte sie im Laufen.
Alberich atmete angestrengt ein und aus. »Er geht irgendwann in einen Treppenschacht über, der in den unteren Grotten endet.«
»Was für Grotten sind das?« wollte Löwenzahn wissen.
»Es gibt dort unten einen See, in dem sich das Wasser aus dem ganzen Berg sammelt.«
Mütterchen und Löwenzahn wechselten einen Blick. »Glaubst du…?« begann die Räuberin.
Der Krieger nickte. »Das wird es sein.«
Alberich hatte Mühe, mit den langen Beinen der beiden anderen mitzuhalten, sogar mit Mütterchen, der ihr Alter mehr zu schaffen machte, als sie sich eingestehen wollte. »Könntet ihr mir verraten, wovon ihr sprecht?« fragte der Zwerg.
Mütterchen erklärte ihm Geists Entdeckung in wenigen Worten, und Löwenzahn nickte bestätigend, ohne seine Geschwindigkeit zu verlangsamen.
Mütterchen überlegte. »Wenn das, was Geist gespürt hat, sie derart aufregt, daß sie sogar ohne uns dorthinläuft, muß es etwas sein, das –«
Löwenzahn unterbrach sie, und Schrecken überzog seine Züge wie eine Maske aus Eis: »Etwas, das den Pflanzen schadet!« Und mit diesen Worten raste er los, und kein Zurufen der beiden anderen konnte ihn davon abhalten, sie hinter sich zu lassen. Bald war auch er hinter der Biegung des Felskorridors verschwunden.
»Sind denn plötzlich alle verrückt geworden?« fauchte Alberich. Diesmal sah Mütterchen keinen Grund, ihm zu widersprechen. Löwenzahns Sorge um Geist war begreiflich, doch es half niemandem, wenn er blindlings in eine Horde feinseliger Zwerge stolperte – falls es tatsächlich Zwerge waren und nicht etwas noch Schlimmeres. Mütterchen wußte selbst nicht, wie sie auf diesen Gedanken kam – verdammt, alles was sie entdeckt hatten, war ein einziger Zwerg! –, doch ihr Gefühl sagte ihr, daß es tödlich sein mochte, jetzt vorschnelle Schlüsse zu ziehen.
Wie Alberich vorausgesagt hatte, kamen sie nach einer Weile an den oberen Absatz einer steilen, schier ins Endlose abfallenden Treppe. Die Schachtdecke war sehr hoch, mehrere Mannslängen, dafür aber standen die Wände ungemein eng beieinander. Von Geist und Löwenzahn war nichts zu sehen, nur in weiter Ferne hörten sie das hallende Trommeln von Stiefelabsätzen auf den Stufen.
Die Treppe machte wie schon der Korridor eine leichte Biegung, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Das bedeutete, daß sich ihr Verlauf vom Umriß der Horthalle löste. Allein die Vorstellung, all diese Stufen wieder hinaufsteigen zu müssen, ließ Mütterchens alte Knochen schmerzen.
»Es ist… nicht… mehr weit«, stammelte Alberich atemlos.
Bald erkannte Mütterchen in der Tiefe einen niedrigen Torbogen, kaum mehr als ein Spalt. Er war von etwas Dunkelgrünem ausgefüllt, möglicherweise von einem Vorhang oder, ja, tatsächlich, von einem Dickicht aus Pflanzen.
Mütterchen und Alberich erreichten den unteren Treppenabsatz und blieben mit vorgebeugten Oberkörpern stehen. Sie konnten nicht anders, sie mußten einen Augenblick lang verschnaufen.
Da ertönte von der anderen Seite des Pflanzenvorhangs ein metallisches Scheppern, und einen Wimpernschlag später stolperte Löwenzahn rückwärts in den Treppenschacht. Er hielt seinen gewaltigen Zweihänder fest umklammert, hatte allerdings viel zuwenig freien Raum, um ihn wirksam einzusetzen. Zwei Zwerge drängten hinter ihm durch das Dickicht und setzten ihm mit Äxten zu, die alt und schartig
Weitere Kostenlose Bücher