Nibelungenmord
Jungen geöffnet?
Plötzlich lag etwas in der Luft, eine Ahnung von Gefahr vielleicht. Er trat zurück in die Küche, suchte automatisch Deckung, horchte. Nichts. Er griff nach seiner Waffe.
Sie war weg.
Verdammt, dachte er. Verdammt, verdammt. Hatte er sie im Präsidium vergessen? Zu Hause? Verschwommen fragte er sich, wo zu Hause eigentlich war.
Wahrscheinlich hatte er sie im Wohnzimmer abgelegt, zusammen mit Jacke und Schal.
Er trat zurück in den Flur.
Und erst als etwas neben seiner Stirn klickte und er den kalten Druck seiner Walther spürte, wusste er, wo sie war.
*
Elena dachte gar nicht daran, zum Sippmeyer-Haus zu fahren.
Typisch, dachte sie. Drei Tage passiert beinahe gar nichts, und dann ist plötzlich die Hölle los. Die Tochter der Ermordeten verschwunden, der Ehemann der Verschwundenen geständig, Jan findet eine mögliche Tatwaffe, während Frenze endlich die Mordwaffe bestimmt, und parallel dazu rennen uns die Zeugen plötzlich die Bude ein.
Wie konnte Jan in so einer Situation auf die Idee kommen, derart viele Kräfte von der normalen Ermittlungsarbeit abzuziehen und zum Hause Sippmeyer zu schicken?
Überblick behalten, dachte sie. Alle verlieren den Überblick, das ist kein Wunder. Eine Leiche und zwei Vermisste, das sind zu viele Baustellen, solange wir keine Verbindungen finden. Umso wichtiger, dass wir uns auf saubere Polizeiarbeit besinnen, damit man uns keine Fehler nachweisen kann, sonst war Lohse die längste Zeit Dezernatsleiter.
Zeugen befragen und Spuren auswerten. Das ist das Einzige, was wir machen können. Und wenn es Hunderte von Zeugen und Hunderte von Spuren sind, dann ist das eben so, da brauchen die anderen nicht zu meckern. Im Meckern waren ihre Kollegen groß. »So ein Chaos hier«, hatte Reimann am Telefon gestöhnt. Und Jan hatte sich aufgeblasen wie wer weiß was, bloß weil er einmal im Leben halbwegs konzentriert bei der Sache war und jetzt meinte, er müsse gleich unter die Top-Ermittler gehen.
Wo das Mädchen wohl steckte? Koller war völlig durchgedreht, kein Wunder. Erst die Mutter, dann die Tochter.
Allerdings hatte Elena seine Überzeugung, es müsse sich bei Laras Verschwinden um ein Verbrechen handeln, nicht teilen können. Alles sah danach aus, als sei das Mädchen abgehauen. Spontan und ungeplant, aber doch freiwillig. Tee auf dem Tisch, der kitschige Lieblingsrucksack im Flur, keine warme Jacke dabei, vermutlich nur den Pullover, den sie morgens getragen hatte. Oder die Strickjacke, der Vater war sich da nicht sicher gewesen. Überhaupt hatte er nicht gewusst, was sie getragen hatte. Das machte die Sache natürlich nicht leichter. Väter waren als Gesprächspartner in solchen Fällen meist nicht sehr ergiebig. Die Mutter hätte die Kleidung ihrer Tochter vermutlich detailliert beschreiben können, ebenso hätte sie erkannt, was fehlte, dachte Elena und seufzte.
Laras Klassenkameradinnen waren alle telefonisch nicht zu erreichen gewesen. Oder hatten sie vielleicht nicht erreichbar sein wollen? Eigentlich waren Teenager heute doch rund um die Uhr in Rufbereitschaft.
Ohrenbetäubender Lärm schlug ihr entgegen, als sich die Aufzugstür öffnete.
Reimann trat ihr entgegen und rieb sich seinen stoppeligen Schädel. »Da hast du uns aber was eingebrockt! Seit Stunden belagern die uns!«
»Seid ihr noch nicht durch? Warum kümmert ihr euch nicht um die Schüler? Glaubt ihr, ich habe die zum Spaß herbestellt?«
»Mach mal locker, Elena. Es ist echt viel los. Die Durchsuchung vom Haus der Schleheck, und alle Verhörräume sind voll. Hast du … Hey! Sag mal, wolltest du nicht zu Jan ins Sippmeyer-Haus?«
»Wollte, sollte … Was Jan sich da so vorstellt.« Elena zuckte die Achseln, öffnete die Tür zum Büro und nickte ihm zu.
»Sie!« Ein grellblondes Mädchen fasste sie am Arm. »Haben Sie mal ’nen Moment?«
Elena schüttelte die Hand ab. »Mein Kollege wird Bescheid geben, wenn du an der Reihe bist.«
»Ich warte aber schon voll lange. Und …« Das Mädchen vollführte eine Schlängelbewegung, die Elena nicht zu deuten wusste. Hielt sie ihre Aussage für so wichtig? Hatte sie nachher eine Verabredung? Musste sie aufs Klo?
»Ist echt wichtig.«
»Okay«, sagte Elena und seufzte. »Dann komm rein.« Kurz überlegte sie, ob sie die Schüler siezen musste. Wahrscheinlich nicht, aber bestimmt fühlten sie sich dann ernst genommen und gaben sich mehr Mühe.
Siezen, beschloss Elena.
Das Mädchen nahm auf der äußersten Ecke des Stuhles
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