Nibelungenmord
hieß das, dass sie nicht fror. Es wäre echt schlimm, wenn sie sich erkälten würde.
Vierzehn Tabletten. Bei starken Einschlafstörungen bis zu zwei Tabletten eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen einnehmen, stand auf dem Beipackzettel. Er würde zur Sicherheit immer drei nehmen, denn er konnte nicht riskieren, dass Lara aufwachte. Als normalen Schlaf rechneten die Tablettenleute wahrscheinlich acht Stunden, er brauchte also für vierundzwanzig Stunden neun Tabletten.
Er musste bald los, um Geld zu holen und Getränke und Feuerzeuge. Seine Mutter hatte den ganzen Schrank voller Pillen, die sie jetzt nicht mehr brauchte. Und wenn er schon da war, konnte er auch gleich seinen Laptop holen und ein paar DVDs. Wahrscheinlich würde der Akku nicht lange halten, aber immerhin hätte er ein bisschen Ablenkung.
Ablenkung war wichtig. Man wurde so schnell bekloppt, wenn man keine Ablenkung hatte. Und vielleicht würden sie sehr lange hier im Dornröschenschloss bleiben müssen, Lara schlafend, er als ihr Beschützer.
Lara seufzte wieder im Traum, und er lächelte, weil das echt wie ein Grunzen klang, wie ein niedliches Grunzen.
Er musste los. Die Tabletten würden sie noch mindestens vier Stunden ruhig halten, aber er sollte sich trotzdem beeilen.
Geld holen. Klamotten holen. Kakao auch, und auf keinen Fall eine weitere Tasse. Laptop holen, das war ganz wichtig. Vielleicht könnte er heute Abend noch den ersten Teil vom Herrn der Ringe gucken, mit Lara im Arm. Er könnte zwischendurch an ihren Haaren riechen. Sie war so süß, wenn sie schlief. Und falls sie zwischendurch mal aufwachte, würde sie das Auenland sehen, und dann würde er ihr noch etwas zu trinken geben …
*
Es war einfach unglaublich und außerdem unverantwortlich, dass jemand heutzutage kein Handy hatte. Vor allem, wenn es sich um die eigene Großmutter handelte. Was aber ein Skandal war: wenn diese Großmutter dann auf dem Präsidium anrief und behauptete, sie habe eine Leiche gefunden. Denn das hatte Edith getan. Oder?
Der Wagen vor ihm verlangsamte und setzte den Blinker, und Jan trat fluchend in die Bremsen. Er hatte es eilig. Er hatte es sogar verdammt eilig.
Bei Ninas Versuch, den Anruf in sein Büro umzuleiten, war irgendetwas schiefgegangen. Jeden anderen Menschen auf der Welt hätte man zurückrufen können, nicht aber Edith Herzberger. Sie hatte aus einer öffentlichen Telefonzelle angerufen, welche genau, hatte niemand auf die Schnelle gewusst. Erstaunlich genug, dass Münzfernsprecher noch existierten.
Nina berichtete auf seine aufgeregten Nachfragen, Edith habe es offenbar eilig gehabt. Sie habe ihrem Enkel nur ausrichten lassen, dass sie Margit Sippmeyer gefunden habe und dass er zum Haus der Sippmeyers kommen solle. Nina habe Edith gebeten, in der Leitung zu bleiben, und danach sei Edith verschwunden gewesen.
Endlich tauchte die Altstadt von Königswinter vor ihm auf. Jan bog rechts ab zur Rheinpromenade. Er war nervös. Teils fürchtete er sich vor der Leiche, die ihn erwartete, teils davor, dass möglicherweise alles ganz anders war. Vielleicht hatte Edith gar nichts gefunden? Vielleicht hatte sie sich irgendwie in Schwierigkeiten gebracht? Auf jeden Fall wollte er der Erste sein. Natürlich hatte er sofort Elena zum mutmaßlichen Fundort bestellt, aber das würde dauern, weil sie noch bei Koller und mit der Suche nach Lara beschäftigt war. Es hatte ein ziemliches Wirrwarr gegeben, als er versucht hatte, die Einsatzkräfte zu koordinieren, und schließlich hatte er Nina beauftragt, ihm die Ermittler nachzuschicken, und war in seinen Mini gesprungen.
Erst als er endlich vor der Villa der Sippmeyers parkte, schoss Jan durch den Kopf, dass Edith vielleicht gar nicht mit ihm reden wollte. Hatte die Vermittlung deshalb nicht funktioniert, weil sie aufgelegt hatte? Warum hatte sie ihn dann überhaupt angerufen und nicht einfach nur die 110 gewählt?
Weil niemand ihr geglaubt hätte, dachte Jan. Wenn eine Oma die Polizei anruft und von Mord und Totschlag erzählt, glaubt ihr keiner. Man bittet sie aufs Präsidium, um die Wahrscheinlichkeit zu minimieren, dass sie nur ein bisschen quatschen will. Genau dafür hatte Edith aber offensichtlich keine Zeit gehabt.
Niemand reagierte auf sein Klingeln. Einen Moment lauschte Jan dem melodischen Geklimper hinter der eindrucksvollen Haustür nach, dann drückte er noch einmal.
Klar, dachte er. Sippmeyer saß im Präsidium. Was war wohl mit dem Sohn? Und vor allem mit der Haushälterin? Und
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