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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
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etwas zu spüren. Etwas war in dem leeren Raum vor ihr, flimmerte, wartete darauf, zum Leben erweckt zu werden, flehte darum, seine Form zu erhalten. Dann war da der Spaziergang gewesen, auf dem Michael mit halblauter Stimme von dem Drachen in seiner Höhle sprach, und plötzlich war alles vor ihr erstanden, der ganze Nibelungenmythos. Durch sie beide und durch Kriemhild, die arme, betrogene, die nicht ahnte, dass ihr Mann …
    So war es gewesen. Nur Michael hatte sie diese wunderbare Wende zu verdanken, die Hoffnung, die plötzlich wieder da gewesen war, Hoffnung auf eine zweite Chance als Künstlerin. Hoffnung, dass sie nicht bis ans Ende ihrer Tage erniedrigenden Touristenramsch herstellen und in fröhliche Papiertüten packen musste.
    Und jetzt das Loch.
    Wie konnte es sein, dass sie den Zugang zu dem Nibelungenstoff so urplötzlich verloren hatte? Monatelang hatte sie gearbeitet, am Verhältnis der beiden Frauen, die um einen strahlenden Helden kreisten. Es war eine Geschichte, die sie selbst nur zu gut kannte und die doch in der Ausprägung dieser tausend Jahre alten Geschichte eine Gültigkeit, eine archaische Wahrheit erhielt, die sie und ihr eigenes Leben über den Schmutz einer gewöhnlichen Affäre erhob.
    Wohin war das alles verschwunden?
    Und ohne dass Romina es verhindern konnte, sickerte eine Erkenntnis in ihr Bewusstsein und wurde dort zur absoluten Gewissheit.
    Mit Margit war auch Kriemhild verschwunden.
    Und sie würden beide nicht mehr wiederkommen.
    Nie mehr.
    *
    Auf dem Krankenhausflur roch es furchtbar. Nach Desinfektionsmitteln, Krankheit und Tod. Jan vergrub seine Nase in den fröhlichen rosa Blüten des Alpenveilchens, das er mitgebracht hatte, aber es kam aus dem Treibhaus und roch nach nichts. Rochen Alpenveilchen überhaupt?
    Er trat auf eine der herumhastenden Krankenschwestern zu.
    »Können Sie mir sagen, wo ich Edith Herzberger finde?«
    »Zimmer 345, da hinten rechts. Fragen Sie bitte im Schwesternzimmer nach, ob Sie sie besuchen dürfen.«
    »Mach ich.«
    Machte er natürlich nicht.
    Er klopfte zweimal und trat ein, als er nichts hörte.
    Sie lag unter der weißen Krankenhausdecke und hielt die Augen geschlossen. Ihr Gesicht war spitz und eingefallen, und im ersten Moment dachte er, sie wäre tot. Doch dann schlug sie die Augen auf, und die sahen aus wie immer, porzellanblau und blitzend. Sie lächelte, als sie ihn erkannte.
    »Hast du geschlafen?«, fragte er und setzte sich auf den Stuhl. Das Alpenveilchen stellte er auf den Nachttisch.
    »Nein«, sagte sie, und es freute ihn, dass sie log. Das war bestimmt ein gutes Zeichen. Sie wollte ihn nicht wissen lassen, dass er sie gestört hatte. In ihrer verkrümmten Hand steckte eine Plastikkanüle, und er fragte sich, ob das wohl weh tat.
    »Was für schöne Blumen!«
    »Bist du allein im Zimmer?« Er warf einen Blick auf das zweite Bett.
    »Meine Zimmernachbarin ist gerade draußen, zum Glück. Sie redet in einem fort von ihren Operationen. Sehr unappetitlich. Jetzt ist sie beim Röntgen, das dauert bestimmt lange.« Ihre Stimme klang wie immer, und das war sehr beruhigend. Trotzdem machte ihm ihr Zustand Angst. Unter der Decke wirkte sie so winzig und schmal wie ein Vögelchen.
    »Und du?«
    »Mich untersuchen sie nachher weiter.«
    »Was war denn?«
    »Nur der dumme Kreislauf. Sie haben mir eine Spritze und eine Infusion gegeben.«
    »Die Nachbarn sagen, du bist gestürzt.«
    Sie verzog das Gesicht. »An den Mülltonnen, ja. Es tut furchtbar weh, deswegen habe ich die Spritze bekommen. Nachher gucken sie nach, ob etwas gebrochen ist. Man konnte noch nicht viel erkennen, aber der Oberarzt kommt gleich.« Ihre Lider flatterten, und der Kopf sank zur Seite.
    »Willst du schlafen?«
    Edith griff nach seinem Ärmel. »Ich muss dir noch etwas erzählen«, flüsterte sie, aber so leise, dass er es kaum verstehen konnte. »Ich war in dem Haus und habe mit Cecilia gesprochen. Und mich in Margit Sippmeyers Zimmer umgesehen.«
    Aus irgendeinem Grund war Jan nicht überrascht darüber. Er streichelte ihre unverbundene Hand, die ihm noch nie so knochig und arthritisch vorgekommen war, und drückte sie.
    »Das sollst du doch nicht, Oma«, flüsterte er. Er konnte sie nicht beim Vornamen nennen, nicht, wenn sie so krank und zerbrechlich im Krankenhaus lag.
    Sie sah ihn an, und ihr Blick war drängend. »Da war etwas sehr Seltsames in Margits Bücherregal.«
    »Was denn?«
    »Sie hat alle Bände von Donna Leon. Du weißt schon, die Venedig-Krimis.

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