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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
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Jahren in der Position der Geliebten unwohl gefühlt oder gar seiner Ehefrau ihren Platz geneidet hätte. Sie selbst hatte ihre Erfahrung als Ehefrau damals mit Robert gemacht, und sie wünschte diese Erfahrung um nichts in der Welt zu wiederholen.
    Nein, das war es nicht. Aber bei allen ehrlichen Gefühlen ihr gegenüber hatte Michael keine Sekunde den Zwiespalt überwinden können, in den ihn der Verrat an seiner Familie stürzte. Und dieser ungelöste Konflikt hatte ihn blockiert, hatte wie schwarzes Pech an seiner sonst so strahlenden Aura geklebt. Dem Bild des siegreichen Siegfried, des Drachentöters, der Brünhild überwunden und den Kampf aufgenommen hatte, diesem Bild war Schaden zugefügt worden, ein dunkeltrüber Fleck, der sich immer wieder zwischen sie schob.
    In der letzten Nacht war dieser Flecken verschwunden.
    Und mitten hinein in diesen Tag voller Zukunftspläne und Liebe und ehrlicher Küsse brach jetzt mit Gewalt das schwarze Loch, das Romina so gut kannte und doch niemals wieder zu sehen gehofft hatte. Die kreative Krise.
    Krisen hatte Romina in ihrem Leben schon viele durchgestanden, auch in den letzten Jahren, die doch eigentlich stabil gewesen waren, verglichen mit der Zeit davor. Da waren die nicht zu unterschätzenden finanziellen Krisen. Dazu die Krisen wegen der anspruchslosen, selbstgefälligen Kunden. Kunst für unter zehn Euro, dazu ein viertelstündiges Gespräch mit der Künstlerin, eine hübsche Papiertüte mit Drachen, von denen jede einzelne Romina in der Herstellung sechzehn Cent kostete, und dann wollten sie mit EC-Karte zahlen, was den Gewinn noch mehr schmälerte …
    Dann waren da die Krisen wegen ihrer verbockten Karriere, wegen ihrer himmelschreienden Dummheit, aufgrund derer sich die Tore sämtlicher angesehener Galerien mit einem lauten Knall für sie geschlossen hatten.
    Ja, Krisen kannte sie. Nichts von alldem war so schlimm wie das schwarze Loch. Die weiße Leinwand. Die Leere im Kopf. Das sprachlose Ringen um Formen, um Bilder.
    Sie hatte Kriemhild verloren. Sie spürte sie nicht mehr.
    Das Handy klingelte. Im Display flackerte Michaels Nummer.
    Zittern erfasste ihren Körper, schüttelte sie durch, ließ ihre Zähne aufeinanderschlagen. Plötzlich war der Boden ganz nah, sie spürte ihn unter ihrer Wange, also musste sie gestürzt sein. Über ihr flimmerten die Oberlichter ihres Ateliers, blendeten sie. Sie schloss die Augen, um ihr Atelier nicht mehr sehen zu müssen. Ein Ort der Hoffnung war es gewesen. Michael hatte ihn so genannt.
    Er war es gewesen, der sie wieder zum Malen gebracht hatte. Seine Stärke, seine Präsenz, seine Bewegungen hatten in ihr den Wunsch erweckt, etwas einzufangen, und so hatte sie eines Abends, als er aus der Dusche kam, nach Block und Stift gegriffen. »Rühr dich nicht«, hatte sie gesagt. »Bleib einfach so.« Und er hatte sie gewähren lassen. Am nächsten Tag war er mit dem Auto gekommen, was untypisch war. Meist radelte er die schmale Straße nach Heisterbach hoch, und sie wusste, dass er es nicht nur um der Bewegung willen tat, sondern auch, um eine Ausrede zu haben. »Ach, der Herr Sippmeyer radelt wieder«, mochten seine Mandanten sagen, wenn sie ihn sahen. »So ein sportlicher Mann.« Niemand sah ihn auf der ohnehin kaum befahrenen Straße, wenn er in Rominas Einfahrt einbog und sein Rad im Hof abstellte.
    Dieses Mal war er mit dem Auto gekommen und hatte, während sie in der offenen Tür stand, begonnen, den Kofferraum auszuräumen. Leinwände, fertig bespannt vom Baumarkt. Acrylfarben, Pinsel. Er hatte verlegen gelächelt. »Es sind bestimmt nicht die richtigen Farben, aber für den Anfang reicht es«, hatte er gesagt und sie geküsst, unsicherer als sonst. »Besser als der Block von gestern. Ist es okay, dass ich das gekauft habe?« Beinahe ängstlich hatte sein Blick an ihr geklebt.
    »Warum hast du das gemacht?«, hatte Romina gefragt.
    »Ich finde, es reicht jetzt mit den Comicdrachen. Du kannst mehr. Viel mehr.«
    »Was kann ich?«, hatte sie gefragt, schärfer als beabsichtigt.
    »Mal mich noch einmal«, hatte er gesagt. »Bitte.«
    So hatte es angefangen. In diesem Moment war plötzlich Liebe in ihr gewesen. Und diese Liebe ging einher mit ihrer Schaffenskraft, die zurückkehrte, erst langsam, dann immer drängender. Begierde sprach aus den ersten Versuchen, nicht viel mehr. Straffe, gewölbte Rückenmuskeln, kräftige Unterarme mit deutlichen Adern, es waren schlichte Studien, nichts Großes. Doch sie begann, wieder

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