Nibelungenmord
Das ist sehr eigenartig.«
»Warum ist das eigenartig?«
Ein energisches Klopfen an der Tür, und keine Sekunde später ging die Tür auf. Eine Schwester schob tatkräftig einen Tropfständer herein und hob mahnend den Zeigefinger. »Frau Herzberger, Sie sind noch nicht bereit für Besuch. Der Oberarzt müsste jeden Moment kommen. Wenn Sie bitte so freundlich wären …« Sie sah Jan tadelnd an, und er stand auf.
»Ich komme morgen wieder«, sagte er und versuchte, das bange Gefühl in seiner Brust zu ignorieren. Was, wenn sie starb?
Sie nickte ihm erschöpft zu.
Als sich die Tür geschlossen hatte, sank der alten Dame der Kopf auf die Brust. Wie durch einen Schleier nahm sie wahr, dass sich die Schwester an ihrem Tropf zu schaffen machte und es kühl durch ihre Venen gluckerte.
Seltsam, dachte sie. Alle Donna-Leon-Bücher, vollzählig, wenn auch nicht in einer Reihe. Sie selbst hätte sie chronologisch geordnet.
Seltsam. Noch dazu gebunden, mit Schutzumschlag.
Seltsam.
Die Beruhigungsmittel taten ihre Wirkung. Sie schlief ein.
Draußen auf dem Gang wartete Jan vor dem Schwesternzimmer, bis ihm jemand Auskunft geben konnte. Offenbar war Edith einfach nur erschöpft gewesen und zusammengeklappt. Zwei Stunden hatte sie zwischen den Mülltonnen gelegen, ehe ein Nachbar sie gefunden hatte, daher hatte sie eine Unterkühlung. Da sie starke Schmerzen hatte, waren Brüche zu erwarten, man hatte ihr jedoch noch keine Untersuchung zumuten wollen.
»Sie müssen mit einem Oberschenkelhalsbruch rechnen«, sagte die Schwester und griff nach ihrem Klemmbrett. »Am besten kümmern Sie sich schon einmal um einen Platz in einem Pflegeheim. Sie hätte ohnehin nicht allein leben dürfen in ihrem Alter.« Sie nickte ihm knapp zu und rauschte davon.
Jan klappte sein Handy auf. Auch wenn er wirklich keine Lust hatte, mit seiner Mutter zu sprechen, musste er sie informieren.
*
Dieser Blick war auffallend.
Elena pulte an ihrem Pullover und beobachtete interessiert, wie die Direktorin aus dem Fenster sah.
»Es ist furchtbar«, hatte sie geflüstert, das war mindestens zwei Minuten her. Der Blick aus dem zweiflügligen Fenster ging auf den Schulhof, aber da gerade Unterricht war, gab es auf dem basaltgepflasterten Platz nichts zu entdecken. Nichts als das etwas unregelmäßige Muster der Steine. Vielleicht war die Direktorin eine Umweltaktivistin und sah in den vielen Kubikmetern ehemaliger Vulkanasche, die täglich von den Schülerfüßen getreten wurden, ein Zeugnis der Ausbeutung der Natur? Die zerfranste Silhouette des Steinbruchs war von hier aus nicht zu sehen, und es war schon eine Weile her, dass die Landschaft des Siebengebirges mutwillig zerstört und dem Kölner Dombau geopfert worden war. Aber manche Menschen mochte das immer noch aufregen, auch wenn es ein wenig krass wäre, wenn die Direktorin sich derlei Gedanken machte angesichts eines Mordopfers im eigenen Kollegium.
Die Gedanken sind frei, dachte Elena wie immer, wenn die Phantasie mit ihr durchging. Sie liebte es, während der Befragungen über die tatsächlichen Gedankengänge ihrer Gesprächspartner zu spekulieren. Eine kreative Übung, und sie ermöglichte ihr, frei und ohne Vorbehalte auf die Antworten ihres Gesprächspartners zu reagieren. Nun ja, zumindest in der Theorie, die sie sich zurechtgelegt hatte, um ihre geistigen Spaziergänge zu rechtfertigen.
Martina Gerb-Ferber bot, wie sie da schweigend am Fenster stand, Anlass genug zu Spekulationen. Die Direktorin hatte ein richtig nettes Kostümchen an, grauer Hahnentritt, dazu eine blaue Seidenbluse und passende blaue Pumps. Ihre Haare glänzten so einheitlich braun, dass sie garantiert gefärbt waren, und waren zu einem engen Knoten zusammengesteckt. Es fehlte nur noch der Kneifer.
»Der Tod Ihrer Kollegin scheint Ihnen ja sehr nahezugehen«, sagte Elena und überlegte im selben Moment, ob »Kollegin« der richtige Ausdruck für das Verhältnis zwischen Direktorin und Lehrerin war.
»Ja, das tut er. Selbstverständlich.« Beinahe widerstrebend riss sich die Direktorin vom Anblick des schiefergrauen Himmels über dem steingrauen Schulhof los und nahm hinter ihrem schicken gläsernen Schreibtisch Platz.
»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt. Es muss vor zwei Tagen gewesen sein, auf dem Parkplatz.« Das straffe Kinn der Direktorin zeigte in Richtung Fenster. »Wir wechselten ein paar Worte, dann stieg sie in ihren Wagen. Nichts Besonderes. Man
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