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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
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öffnete die Tür des Küchenschranks und sah in den Eimer. Er war randvoll. Sie zog die Plastikschlaufen der Tüte heraus, ergriff den Müllbeutel und warf einen prüfenden Blick auf das siedende Wasser. In einer Minute würde sie zurück sein. In zwei, falls sie auf dem Treppenabsatz innehalten und verschnaufen musste.
    Sie zog den Kragen ihrer Strickjacke am Hals fest zusammen, schloss die Wohnungstür auf und trat in das kalte Treppenhaus.
    Auf dem Hof war es eisig, als sei plötzlich Winter geworden. Der Wind pfiff. Als sie mit ihren vor Arthrose steifen Fingern nach dem Mülleimerdeckel greifen wollte, glitt ihr der Beutel aus der Hand und fiel zu Boden. Ohne zu überlegen, bückte sie sich.
    Erst als ihre Finger über den gepflasterten Boden tasteten, ging ihr durch den Kopf, dass sie heute so unbeweglich war wie lange nicht mehr. Dass sie sich heute keinesfalls hatte bücken wollen. Dass sie vielleicht nicht mehr ohne Hilfe hochkommen würde.
    Ein heißer Schmerz schoss ihr durch die unteren Lendenwirbel, als sie sich aufrichten wollte. Sie griff zur Seite, um sich abzustützen, und stieß dabei unsanft gegen die Mülltonne.
    Etwas knackte in ihr, als sie umstürzte. Von unten sah alles so sonderbar aus. Helle Flecken tanzten um sie herum, und die alte Dame überlegte, ob das eine nahende Ohnmacht war oder ob es so aussah, wenn man starb.
    Erst als etwas kalt und federleicht ihre Wange berührte, begriff sie, was sie sah.
    Der erste Schnee fiel.
    *
    Die Tür zum Besprechungsraum war zu, und für einen Moment wünschte Jan, sie bliebe es auch. Gespräche mit den Angehörigen eines Mordopfers gehörten nicht zu seinen Stärken.
    Reiß dich zusammen, dachte er und lächelte, als er die Stimme seiner kleinen Schwester Clara aus dem Off zu hören glaubte: Benimm dich wie ein Erwachsener, Jan! Das sagte sie immer. Und es klang gut.
    »Was grinst du denn so?«, fragte Reimanns Stimme in seinem Rücken.
    »Gar nichts.«
    »Dann ist ja gut. Das Grinsen wird dir nämlich vergehen, wenn du da reingehst.«
    »Warum sind die im großen Besprechungsraum?«, fragte Jan und wies mit dem Kinn auf die graue Tür.
    »Alle voll. Heute ist schwer was los. Wegen des Artikels in der Zeitung. Die rennen uns seit zehn Uhr die Bude ein.«
    »War schon was Brauchbares dabei?«
    »Nichts auf den ersten Blick, nur das Übliche. Zwei Rentner, die nicht wissen, was sie gesehen haben, aber eine Tasse Kaffee nach der anderen trinken. Zwei vage Fahrzeugbeschreibungen. Ein Haufen hysterischer Schulkinder, die die Jacke ihrer Lehrerin erkannt haben.«
    »Lehrerin?«
    »Das ist ihr Beruf, Elena hatte recht. Valerie Koller, dreiundvierzig Jahre alt. Bio und Sport hier am örtlichen Gymnasium. Ihr Ehemann glaubte sie bei seiner Mutter, deswegen hat er sie nicht vermisst. Hat es durch die Zeitung erfahren, der arme Kerl.«
    »Ich geh dann mal rein.«
    »Mach das.«
    Jan atmete tief durch und griff nach der Türklinke.
    Der Mann, der Elena an dem abgenutzten Tisch gegenübersaß und mit den Händen seinen Plastikbecher umklammerte, sah nicht auf.
    »Mein Beileid, Herr Koller«, sagte Jan und nickte ihm und Elena knapp zu. »Ich bin Kriminalhauptkommissar Seidel.«
    Elena warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu. Wenn sie sauer war, weil er wieder zu spät auftauchte, dann verbarg sie es gut. Sie hatte ihr drahtiges Pferdehaar in einen Zopf gezwängt, ohne dass dies ihrem Erscheinen einen Hauch mehr Seriosität verliehen hätte. Ihren blauen Strickpulli zierten die üblichen Krümel. Aus irgendeinem Grund machte ihre Erscheinung Jan aggressiv. Sollte Elena jemals als Mordopfer enden, so hätten die Kriminaltechniker ihre helle Freude an ihren Pullovern, konnte man daran doch Elenas Speiseplan der letzten Woche rekonstruieren, dachte Jan und schämte sich gleichzeitig für seinen gehässigen Gedanken.
    »Mein Kollege wird Sie jetzt noch einmal befragen, Herr Koller«, sagte Elena. Sie sprach sehr deutlich, wie zu einem Schwerhörigen oder einem Kleinkind. »Soll ich Ihnen vielleicht noch einen Kaffee mitbringen?«
    Der Mann nickte und sah Elena nicht nach, als sie den Besprechungsraum verließ.
    »Wir vermissen das Handy Ihrer Frau«, begann Jan. Er begann bewusst mit einem vergleichsweise unverfänglichen Thema. Die Befragung der nächsten Angehörigen in einem Mordfall war eine heikle Angelegenheit, und er war stets in Sorge, ob er das nötige Fingerspitzengefühl aufbrachte. Die Gesprächspartner waren oft starr vor Schreck und Trauer und empfanden

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