Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
Vom Netzwerk:
weiß ja nicht, dass man sich danach nie wiedersieht.« Sie presste die Lippen aufeinander, als wolle sie Lippenstift verteilen, aber vielleicht sollte das auch ein Zeichen von Betroffenheit sein.
    »Erschien sie Ihnen anders als sonst?«
    Martina Gerb-Ferber lachte trocken auf. »Ich habe vier Krankmeldungen an diesem Vormittag bekommen, und zwei der Kollegen, die ich zur Vertretung eingesetzt hatte, wollten das mit mir ausdiskutieren. Da hatte ich leider keine Antennen dafür, ob alle Lehrer so waren wie sonst.«
    »Verstehe«, sagte Elena nachdenklich. Eigentlich wirkte Gerb-Ferber nicht wie eine Vorgesetzte, mit der man gerne etwas ausdiskutierte. Zumindest nicht etwas so Aussichtsloses wie Vertretungspläne.
    »Wir haben zurzeit Mathe und Biologie als Mangelfächer, das führt ständig zur Überlastung der entsprechenden Fachlehrer.«
    »Haben Sie sich denn nicht gewundert, dass Frau Koller nicht zum Unterricht erschien? Wenn Sie ohnehin so viele Ausfälle haben?«
    »Nein. Ich hatte eine Besprechung, und Frau Heuscher, die Sekretärin, teilte mir mit, dass Frau Koller angerufen hat. So habe ich es zumindest verstanden. Sie hat eine Schwiegermutter, die allein lebt. Ich dachte, um ehrlich zu sein, sie liegt im Sterben. Wegen einer Lappalie hätte Frau Koller niemals Unterricht ausfallen lassen, sie nahm ihre Arbeit sehr ernst. Im vergangenen Jahr hatte ich keine einzige Krankmeldung von ihr.« Dem beifälligen Unterton entnahm Elena, dass man das nicht von allen Lehrern sagen konnte.
    »Was war sie denn sonst so für ein Mensch?«
    »Eine ganz besondere Kollegin. Sie ist, nein, war, seit sechzehn Jahren hier an der Schule und hat in der Zeit viele entscheidende Sachen ins Rollen gebracht. Sie hat tatkräftig mitgeholfen, uns zu dem zu machen, was wir heute sind.«
    Das klang ein bisschen pathetisch, beinahe wie ein Nachruf, dachte Elena. Ob die Direktorin im Geiste bereits ihre Rede probte, die sie anlässlich einer Trauerfeier in der Aula halten würde? Bestimmt würde ihr ein schwarzes Kostüm ausgezeichnet stehen, mit einer dunklen Seidenbluse und dezenter Schleife. Wie eine Direktorin in einem Internatsfilm aus den Sechzigern. Genau so kam Gerb-Ferber ihr vor. Nur dieser hässliche Doppelname passte nicht dazu.
    »Zum Beispiel? Was hat sie mit auf den Weg gebracht?«
    »Unsere Russland-AG. Die hat sie selbst aufgebaut. Frau Koller spricht Russisch, und auf ihre Initiative hin haben wir eine Russischlehrerin eingestellt und die AG gegründet.«
    »Die welchen Zweck hat?«
    Gerb-Ferber lächelte sparsam. »Zweck ist nicht ganz der Ausdruck, den wir wählen würden, wenn wir unsere pädagogischen Projekte begründen. Es geht vor allem darum, den Austausch mit Russland zu fördern. Und darum, den Schülern interkulturelle Erfahrungen zu ermöglichen. Meist findet Schüleraustausch nur mit Schulen in England und Frankreich statt, und das, was die Schüler zu Gesicht bekommen, unterscheidet sich nur unwesentlich von dem, was sie kennen. Beeindruckt sind die Schüler höchstens, wenn wir sie in die USA fahren lassen.«
    »Verstehe«, sagte Elena und spürte, wie ihr Widerstand schmolz. Koller musste eine sehr bemerkenswerte Frau gewesen sein, wenn sie ihren persönlichen Kampf gegen den Amerika-Zentrismus der Jugend ausgerechnet auf einer öffentlichen Schule begann.
    »Und wie stehen Sie dazu?«
    »Ich denke dabei vor allem an die Interessen der Schule. Wir verdanken diesem Projekt nicht nur ausgezeichnete Presse und einige Fördermittel, sondern auch das ständige Interesse der Schulbehörde. Es gibt immer wieder Schulen, die sich für unser Projekt interessieren, so dass ein regelmäßiger Austausch stattfindet.«
    »Hat Frau Koller solche Auslandsfahrten begleitet?«
    »Meistens schon. Wenn sie keine anderen Verpflichtungen hatte. Und damals, als ihre Tochter noch klein war, ist sie natürlich zu Hause geblieben. In den folgenden Jahren hat ihre Tochter sie dann manchmal außerplanmäßig begleitet.«
    »Verstehe«, sagte Elena. »Und wie war das mit Frau Kollers sonstigem politischen Engagement?«
    Die Lippen der Direktorin schlossen sich missbilligend. »Über ihre Parteibücher müssen mir die Lehrer keine Auskunft geben.«
    »Ich hatte den Eindruck, dass die AG durchaus politisch motiviert ist.«
    »Nur im pädagogischen Sinne.«
    »Aha«, sagte Elena und überlegte, was denn Politik im pädagogischen Sinne meinte.
    »Unser Gymnasium ist anderen Anforderungen ausgesetzt als früher. Etwa die Hälfte unserer

Weitere Kostenlose Bücher