Nibelungenmord
die Fragen zu Recht als zudringlich. Dennoch war es wichtig, sofort alle Erinnerungen und Informationen zu aktivieren, ehe wiederholtes Erzählen und Nachdenken sie unwirklich oder brüchig gemacht hatten. Und dann war da noch die Tatsache, dass der Täter nur allzu oft im nahen Umkreis des Opfers zu suchen war.
»Die Auswertung der Daten der Telefongesellschaft dauert noch ein bisschen. Vielleicht können Sie mir schon mal sagen, wann Sie das letzte Mal mit ihr gesprochen haben.«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Hat sie Sie von ihrem Handy aus angerufen, um zu sagen, dass sie verreist?«
»Sie ist nicht verreist. Sie wollte nur zu meiner Mutter, um nach dem Rechten zu sehen.«
»Okay.«
»Meine Mutter ist über siebzig. Letztes Jahr hatte sie einen Oberschenkelhalsbruch, seitdem geht es ihr nicht mehr so gut. Sie hatte am Telefon einen etwas verwirrten Eindruck gemacht, darum wollte meine Frau nach der Schule hinfahren.«
»Wann war das?«
»Was?«
»Wann ist sie losgefahren?«
»Ich schätze, nach der Schule. Sie hatte nur fünf Unterrichtsstunden.«
»Wann haben Sie Ihre Frau vermisst?«
Die Frage schien Peter Koller zu schmerzen. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Ich habe sie nicht vermisst. Ich dachte ja, sie wäre bei meiner Mutter.«
»Haben Sie nicht telefoniert? Haben Sie nicht angerufen, um zu fragen, ob sie gut angekommen ist?«
»Doch! Aber sie hatte ihr Handy ausgeschaltet.«
»Festnetz hat Ihre Mutter nicht?«
»Natürlich hat sie das. Ich war beschäftigt, hatte viel zu tun, es gab Probleme mit der Lohnbuchhaltung.«
Der Mann war nervös. Er wischte sich die Hände an der Hose ab, sein Knie zuckte.
»Lohnbuchhaltung«, wiederholte Jan und betonte jede Silbe. »Und das war wichtiger?«
»Ja, verdammt! Ich wusste doch nicht, dass irgendein Idiot kommt und meiner Frau den Schädel einschlägt! Ich dachte, die beiden sitzen zusammen vor dem Fernseher und trinken Roséwein oder so!«
»Und da hätte ein Anruf von Ihnen gestört.«
»Hören Sie«, sagte Koller, und seine Stimme klang jetzt erschöpft. »Ich hatte keine Lust, meine Mutter am Telefon zu haben und mich fragen zu lassen, warum ich nicht selbst gekommen bin. Deswegen habe ich nicht angerufen.«
»Verstehe«, sagte Jan, und er verstand wirklich. Zwar lag es seiner Mutter fern, ihn mit Forderungen oder Sorgen zu konfrontieren, aber das hieß nicht, dass er gerne mit ihr sprach. Auch in der Zeit, in der Clara noch bei Henny gewohnt hatte, hatte er seine Schwester lieber auf dem Handy angerufen, obwohl das teurer war.
Ein kurzes Pochen an der Tür, und beinahe gleichzeitig wurde sie aufgestoßen. »Kommst du mal, Jan«, sagte Reimann.
»Ich bin gleich wieder da«, entschuldigte sich Jan bei Peter Koller und lächelte ihm zu. Der arme Mann hatte nicht nur seine Frau verloren und die Probleme mit seiner Mutter an der Backe, sondern musste sich auch noch Vorwürfe wegen des unterlassenen Anrufs machen.
Er folgte Reimann auf den Flur.
»Was ist denn?«, fragte Jan und schloss die Tür.
»Da war ein Anruf vom Krankenhaus. Es ist irgendwas mit deiner Großmutter.«
*
Plötzlich war es da.
Ganz unvermittelt war das schwarze Loch wieder da, die Angst vor dem Nichts. Wie immer kam es schnell und ohne Vorankündigung, überraschte Romina mitten im Alltag, mitten im Pläneschmieden – das erste Mal seit langem waren es wirklich schöne Pläne gewesen, normale Pläne, zupackende Pläne. Pläne, die mit anderen Menschen zu tun hatten und nicht nur mit ihr selbst. Mit einem anderen Menschen zumindest. Mit Michael.
Die Nacht mit Michael war wunderbar gewesen. Nächte mit Michael waren natürlich immer wunderbar, sie beide wären nicht in diese Situation geraten, wenn ihre Körper nicht füreinander bestimmt wären. Etwas aber war diesmal anders gewesen als sonst. Es hatte etwas in der Luft gelegen, eine gemeinsame Zukunft.
Erstmals hatte Romina das Gefühl gehabt, dass Michael etwas verändern konnte. Bisher war er ihr trotz seines kraftstrotzenden Äußeren oft hilflos erschienen, eingekeilt zwischen der Loyalität gegenüber Margit, der Liebe zu Sven und den Gefühlen für sie. Plötzlich war eine neue Entschlossenheit in seinen Bewegungen gewesen, hatte sich in seine Züge eingegraben, seine Nasenflügel gestrafft und seine Oberlippe gehoben. Als Malerin nahm sie Veränderungen an Menschen oft schon äußerlich wahr, ehe ihnen selbst diese überhaupt bewusst wurden.
Nicht dass Romina sich in den vier gemeinsamen
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