Nibelungenmord
Schüler hätte früher eine Gesamt- oder Realschule besucht. Unser Migrantenanteil ist hoch, wenn auch nicht so hoch wie in Bonn, und ein Großteil davon sind Türken und Russen oder Russlanddeutsche. Für Letztere ist unsere AG ein Segen. Ihre Heimat, und damit meine ich jetzt Russland, wird durch die Arbeit in der AG deutlich aufgewertet, wird interessanter für die Mitschüler. Es ist ja eine Binsenweisheit, dass die Herkunftsländer hiesiger Migranten ein schlechteres Image haben als unsere Urlaubsländer oder die wirtschaftlich führenden Nationen. Wir geben den Schülern andere Einblicke, sie interessieren sich für Russland, versuchen die Sprache zu lernen und erkennen, was für eine Leistung Ausländer vollbringen müssen, wenn sie Deutsch lernen. Irrsinnigerweise ist das vielen Menschen nicht bewusst, egal, wie schlecht sie selbst in Fremdsprachen sind. Bei uns wird den russischen Jugendlichen Interesse entgegengebracht, es entsteht ein Austausch. Und für Referate und Gruppenarbeiten werden viele, die sonst teilweise isoliert oder in ihrer eigenen Peergroup bleiben würden, zu begehrten Gesprächspartnern.«
»Das klingt toll«, sagte Elena mit aufrichtiger Bewunderung.
»Das ist es.« Eine Gesprächspause entstand, in der das plötzliche Aufknurren in Elenas Magen unangenehm laut auffiel. Sie legte sich die Hand auf den Magen und hoffte, er würde sich beruhigen.
»War Frau Koller mit jemandem aus dem Kollegium besonders befreundet?«
»Befreundet?«, fragte Gerb-Ferber verständnislos. »Sie hat sich mit allen gut verstanden.«
»Mit wem besonders?«
Eine weitere Pause entstand. Elena ließ sie zu und lächelte beharrlich.
»Mit Frau Lärch, denke ich. Die beiden hatten auch privat miteinander zu tun.« Die Worte schienen der Direktorin so schwerzufallen, als habe sie ein Staatsgeheimnis verraten.
»Frau Lärch.« Elena notierte den Namen.
»Sie hat eine halbe Stelle, familienbedingt. Deutsch und Kunst. Die beiden haben auch im Lehrerzimmer oft nebeneinander gesessen.«
»Wo finde ich Frau Lärch jetzt?«
»Sie ist im Unterricht. Wenn Sie bitte Rücksicht nehmen könnten … Die Schüler sind bereits verwirrt genug durch den Mord. Wenn Sie jetzt eine andere Lehrerin aus dem Unterricht holen …«
»Natürlich.« Elena steckte ihren Stift weg. Es war ohnehin besser, Frau Lärch zu Hause aufzusuchen, da konnte sie sich gleich ein umfassenderes Bild machen.
»Das wäre es dann, Frau Gerb-Ferber. Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, wenden Sie sich bitte an mich und meine Kollegen.«
»Aber natürlich.« Mit freundlichem Lächeln sah die Direktorin Elena dabei zu, wie sie ihren Rucksack nahm und nach einem Kopfnicken für die Sekretärin durch das Vorzimmer ging.
Elena hatte Hunger. In ihrem Rucksack befanden sich einige Satsumas, zwei Bananen und ein angebissenes Vollkornbrötchen, aber wenn sie jetzt ihr Pausenbrot auspackte, würde sie sich endgültig vorkommen wie vor zwanzig Jahren, als sie zu einem Gespräch wegen Schuleschwänzens bestellt worden war. Frau Brandner damals war nicht minder beeindruckend gewesen als Frau Gerb-Ferber. Genauso strenge Kostümchen, genauso schmale Lippen mit blutrotem Lippenstift. Manche Dinge ändern sich nie, dachte Elena und ließ den Blick durch die leere Pausenhalle schweifen.
Der Kiosk lachte sie an. Blitzartig war da die Erinnerung an ihren Schulkiosk. Käsebrötchen, die unter einem schlaffen Salatblatt unvorstellbare Mengen Remoulade verbargen. Chipstütchen. Schokoriegel. Die Schulzeit war herrlich gewesen, trotz ihrer häufigen Besuche bei der Direktorin. Oder gerade deswegen?
Die Frau, die geschäftig ihre Theke abwischte, sah nicht viel anders aus als die Kioskbetreiberin aus Elenas Jugend. Ein Kittel, der die drallen Arme betonte, eine saure Dauerwelle, ein mütterliches Lächeln.
»Was kann ich Ihnen anbieten«, fragte sie.
»Ich schau erst einmal.« Als Elena das Angebot des Schulkiosks musterte, wurde ihr allerdings bewusst, wie viel sich geändert hatte. Im Kiosk sah es etwa so aus wie in ihrem Rucksack. Obst, Vollkornbrötchen, Wasser und Apfelschorle.
»Zu meiner Schulzeit gab es andere Sachen«, lächelte sie entschuldigend.
Die Frau nickte voller Verständnis. »Ich weiß genau, was Sie meinen. Aber die Kinder sind ganztags hier. Da gibt es strenge Auflagen. Ich habe aber Kaffee. Möchten Sie einen?«
»Gern.« Das war eine Lüge. Sie wäre gestorben für einen Jasmintee, doch den gab es ganz offensichtlich nicht.
Während
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