Nibelungenmord
nach dem Telefonhörer.
Er sah sich um, während sie in den Hörer zischte. Das Gebäude war wirklich beeindruckend. Marmorböden, dezente Beleuchtung, ein Treppenhaus, das geschickt Durchblicke auf die verschiedenen Stockwerke erlaubte. Hinter einer Glaswand sah er einen menschenleeren Museumsshop. Wäre nicht das leise Gemurmel aus dem angrenzenden Café gedrungen, er hätte schwören können, dass niemand hier reinging. Schade um die schönen Steuergelder, dachte er und ahnte im selben Augenblick, dass jedes einzelne Mitglied seiner Familie ihn für diesen Gedanken lynchen würde.
Nur Nicoletta nicht. Aber die gehörte nicht zu seiner Familie. Und würde es auch in Zukunft nicht tun, so wie es aussah.
»Da kommt sie«, flötete die Empfangsdame und wies mit großer Geste in die Luft hinter ihm.
Jan drehte sich um. Die Frau, die mit unbewegtem Gesicht die Treppe herunterstöckelte, mochte um die vierzig sein. Ein violetter Pelzkragen schmückte ihr enges schwarzes Schlauchkleid. Ihre lackschwarze Ponyfrisur war glatt an den Kopf geklebt.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie und präsentierte ihm ein routiniertes Lächeln, das die Zähne zu verbergen suchte. Vermutlich waren sie schief.
»Ich habe nur ein paar Fragen. Wo können wir uns ungestört unterhalten?«
Während er der Kuratorin treppauf, treppab durch das Museum folgte, kostete es ihn Mühe, seine unbeeindruckte Miene beizubehalten. Das Gebäude war riesig. Und es war fast leer. Was für eine Verschwendung!
Im Büro der Kuratorin sah es nach viel Arbeit aus. Papiere, Prospekte und Bücher türmten sich auf zwei riesigen Schreibtischen, und vollgestopfte Regale zogen sich bis an die Decken. Die junge Frau, die hinter einem der Tische gesessen und eifrig getippt hatte, verschwand auf eine energische Handbewegung hin.
Auf einem freien Fleckchen des überfüllten Schreibtischs, hinter dem Angelika Gernhart Platz nahm, stand ein Tuppergefäß und verriet, dass Jans Besuch sie beim Essen gestört hatte. Der Inhalt war undefinierbar, irgendeine Rohkost in trüber Soße. Wahrscheinlich musste die Kuratorin auf ihre Figur achten.
»Wie Sie sehen, habe ich gerade Mittagspause«, sagte die Kuratorin und überließ es Jan selbst, sich einen Platz zu suchen. Er nahm einen Stapel Bücher von einem Stuhl und setzte sich. Die Uhr an der Wand zeigte kurz vor vier. Ein bisschen spät für eine Mittagspause.
»Im Moment ist viel zu tun, da kommt man manchmal nicht zum Essen.« In dem Kommentar lag ein milder Vorwurf. Mit einem bedauernden Blick auf den Inhalt verschloss Gernhart die Dose und schob sie außer Sichtweite hinter einen Stapel Papiere.
»Romina Schleheck«, sagte Jan ohne Umschweife. »Sie hatten in den letzten Wochen rege Korrespondenz mit ihr. Ich wüsste gern, worum es dabei ging.«
Falls die Kuratorin überrascht war, so ließ sie es sich nicht anmerken. »Wir planen nächstes Jahr eine große Ausstellung über die Nibelungen. Nicht das, was oben auf dem Drachenfels hängt, sondern moderne Kunst, aktuelle Bearbeitungen des Stoffs. Romina Schleheck gehört zu den Künstlern, die wir eventuell ausstellen werden.«
»Meinen Sie die Drachenbilder?«, fragte Jan ungläubig.
Er verstand nicht viel von Kunst, aber die Abbildungen in der Broschüre, die zu der Akte über Romina Schleheck gehörte, sahen für ihn eher nach Tierchen aus, die Butterbrotdosen und Comichefte zierten.
»Nein, keine Drachen. Szenen aus dem Nibelungenlied.«
»Und wovon hängt ab, ob Frau Schleheck mit von der Partie ist?«
»Unser Museumsdirektor möchte erst einiges überprüfen.«
»Nämlich?«
Die Kuratorin zögerte. Sie drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl und betrachtete aufmerksam den klobigen Ring an ihrer linken Hand. Er hatte einen riesigen violetten Stein und sah aus wie aus Schrott geschweißt. Jan war irritiert, erst über den Ring, dann über sich selbst. Seit wann achtete er so genau auf Ringe? Nun, dieser war extrem auffallend. Überhaupt war Angelika Gernhart auffallend. Wahrscheinlich musste man derart exzentrisch auftreten, wenn man mit Künstlern zu tun hatte, dachte Jan. Obwohl Romina Schleheck den Aufzug sicher nicht zu würdigen wusste. Aber sie war auch keine Künstlerin, die in Museen ausstellte. Zu Recht. Mit Schaudern dachte Jan an die furchtbaren Bilder in ihrem Atelier.
Angelika Gernhart war verstummt.
»Der Museumsdirektor«, erinnerte er sie.
Gernhart nickte, als fiele ihr seine Frage jetzt erst wieder ein. »Im Fall Romina
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