Nibelungenmord
Schleheck liegen gleich mehrere Dinge etwas anders. Erstens: Sie ist selbst an uns herangetreten und hat um eine Ausstellung gebeten. Das ist ziemlich ungewöhnlich, eigentlich gibt es in unserem Bereich keine Bewerbungen in der Form. Zweitens: Sie wird von keiner Galerie vertreten. Bei Künstlern, die von Museen ausgestellt werden, also Häusern, die aus öffentlicher Hand unterstützt werden, ist das doppelt ungewöhnlich.«
»Aha«, sagte Jan und bemühte sich, dem zu folgen.
»Drittens: Die Zeitspanne zwischen ihrer letzten Ausstellung und unserer ist, nun, mehr als extrem.« Sie verstummte und betrachtete wieder ihren merkwürdigen Schrottring.
»Nämlich?«
»Zwanzig Jahre.« Das Gesicht der Kuratorin hatte einen Ausdruck angenommen, den Jan schwer einordnen konnte. Neugierig beugte er sich vor, um sie besser beobachten zu können.
»Das ist lang.«
»Das gibt es eigentlich gar nicht! Schon wenn ein Künstler in seiner Ausstellungsvita Lücken von drei, vier Jahren hat, wird es richtig schwierig. Zwanzig Jahre, das gab es, glaube ich, noch nie.«
»Es klingt, als wären Sie geradezu begeistert.«
»Es klingt so? Das ist noch untertrieben! Stellen Sie sich doch bitte einmal vor, was das für unsere PR-Abteilung bedeutet! Was sich daraus machen lässt!« Ihre Hände griffen in die Luft, als entrolle sie ein Plakat. »Das Comeback nach zwei Jahrzehnten!«
»Warum Comeback?«
Ungläubig blinzelten ihn Gernharts Augen durch die schwarzen Ponyfransen an. »Romina Schleheck war in den Achtzigern DIE ganz große Hoffnung auf dem deutschen Kunstmarkt. Es gab ein großes Klagen unter den Kritikern, als sie so plötzlich abtauchte und in der Versenkung verschwand.«
»Aha«, sagte Jan und schwor sich insgeheim, Nina Treibel bei seiner Rückkehr ins Präsidium um mindestens einen Kopf kürzer zu machen. Für die Hintergrundrecherche war sie ganz allein verantwortlich. Wie konnte sie so etwas übersehen? In der Akte hatte nichts davon gestanden.
»Wie kann es denn sein, Frau Gernhart, dass der Museumsdirektor Ihre Begeisterung nicht teilt?«
Angelika Gernhart seufzte verächtlich. »Sicherheitsdenken«, sagte sie. »Die Bilder für unsere Ausstellung unterscheiden sich in beinahe jeder Hinsicht von dem, was Romina Schleheck früher gemalt hat. Ich bin davon überzeugt, dass wir es mit einer ganz normalen künstlerischen Entwicklung zu tun haben. Immerhin liegen zwischen diesen Bildern und den aktuellen mehr als zwanzig Jahre.«
»Aber?«
»Es ist ungewöhnlich, dass Bilder dieser Qualität von keiner Galerie vertreten werden. Unser Museumsdirektor möchte ausschließen, dass es sich hier um die Bilder eines anderen Künstlers handelt.« In der Art, wie sie das Wort »Museumsdirektor« aussprach, steckte ein ganzer Fortsetzungsroman.
»Wie kommt er darauf?«
Gernhart zögerte, ganz so, als misstraue sie ihren eigenen Worten. »Bei einer derartigen Lücke im künstlerischen Lebenslauf werden manche Leute stutzig. Es könnte immerhin sein, dass ein unbekannter Künstler, der noch keine Aufmerksamkeit erregt, Romina Schlehecks frühere Berühmtheit für sich nutzen will.«
»Kommt das vor?«
»Alles kommt vor«, sagte die Kuratorin achselzuckend. »Es wäre allerdings ziemlich ungewöhnlich. Ich glaube nicht daran. Wem sollte so etwas auf Dauer nutzen, abgesehen von der Gefahr, dass es auffliegt?«
»Was für Bilder hat Romina Schleheck denn damals gemalt?«
»Fotorealistische Selbstporträts. Ganz ungewöhnliche, muss ich dazusagen, in brisanten politischen Kontexten«, antwortete die Kuratorin. Offenbar sprach sie über dieses Thema lieber als über den Museumsdirektor. Sie holte eine Schachtel Zigaretten aus der Schublade, entzündete eine mit einem silbernen Feuerzeug und nahm einen Zug, ohne Jan dabei aus den Augen zu lassen. »Sie hatte Ausstellungen in New York, London, Amsterdam. Dann verschwand sie von der Bühne. Puff! Sie malte nicht mehr. So einfach ist das.«
»Und warum hat sie aufgehört?«
Die Kuratorin schenkte ihm ein herablassendes Lächeln. »Was wollen Sie hören? Eine Erklärung, warum manche Künstler plötzlich nichts mehr zustande bringen? Wenn das so einfach wäre! Manche haben zu viel Erfolg, andere zu wenig. Manchen wird der Stress, die Aufmerksamkeit zu viel, manche brauchen Ruhe und bekommen sie nicht, anderen fehlt ohne den Zwang zum Broterwerb plötzlich das richtige Maß an Input.«
»Also kommt so ziemlich alles in Frage.«
»Sie sagen es. In ihrem Fall allerdings …
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