Nibelungenmord
ihre Füße. Sie waren nackt. Hatte sie lange auf dem Badezimmerboden gelegen? Ohne Strümpfe? Im November? Dann würde sie sich erkälten. Das war nicht gut.
»Ich rufe wegen Ihrer Bewerbung an. Wir möchten Sie sehr gerne nächstes Jahr in unserer Nibelungen-Ausstellung aufnehmen, Frau Schleheck.«
»Ja«, sagte Romina.
»Ihr Siegfried soll eines der zentralen Exponate werden, wahrscheinlich nehmen wir ihn sogar auf die Plakate. Er passt einfach hervorragend in unser Konzept. Ein großartiges Bild!«
»Ja.«
»Könnten Sie vielleicht in den nächsten Tagen wegen des weiteren Vorgehens bei mir hereinschauen? Sie wohnen ja ganz in der Nähe, wie ich gesehen habe.«
»Ja.«
»Geht es Ihnen gut?«, fragte die Stimme.
»Nein«, sagte Romina. Dann legte sie den Hörer auf und stürzte zurück ins Bad. Und während sie sich erneut geräuschvoll übergab, begannen die Tränen zu fließen, und in ihre Würgegeräusche mischten sich tiefe Schluchzer der Erleichterung, Schluchzer, die die Würgegeräusche schließlich erfolgreich verdrängten.
Ich habe es geschafft, dachte Romina. Ich habe es wirklich geschafft. Zwanzig Jahre Warten, und jetzt habe ich es doch noch geschafft.
Trotzdem war ihr nicht nach Feiern zumute, nur zu deutlich mahnten sie der saure Geschmack nach Erbrochenem und die Kopfschmerzen an ihren Exzess von letzter Nacht.
Warum habe ich bloß so viel getrunken?, dachte Romina. Nie mehr. Wirklich, nie mehr!
Es gab keine Entschuldigung dafür, sich in ihrem Alter derart kindisch zu betrinken. Oder?
Dann fiel es ihr ein.
Dass das Bild nicht mehr da war.
Dass jemand Siegfrieds Schuld gestohlen hatte.
Das Bild, das Zentrum der Ausstellung werden sollte.
*
Am nächsten Morgen stand auf ihrem Platz der blaugeblümte Eierbecher mit einem Frühstücksei. Es war noch warm.
Normalerweise stand Edith um sieben Uhr auf, immer schon. Seit Jan bei ihr wohnte, war sie an manchen Tagen sogar noch früher auf gewesen. Das lag zum Teil daran, dass sie alles bereithaben wollte, wenn er in die Küche kam, zum Teil aber auch an anderen Dingen. Zum Beispiel die Sache mit dem Badezimmer. Was, wenn er morgens eilig ins Bad musste, und sie blockierte es? Er hatte, ganz der wohlerzogene Besucher, seine Sachen in einem Kulturbeutel aus dunkelblauem Kord verstaut, und das irritierte Edith schon seit Wochen. Denn dieser Kulturbeutel stand seit Jans Einzug im Badezimmer, und zwar sichtbar prall gefüllt. Das hieß doch, dass er alle wichtigen Sachen im Badezimmer deponiert hatte. Was, wenn er morgens nicht drankam?
Bisher hatte Edith sich keine Gedanken über das Necessaire von Männern machen müssen, ihr Johann hatte eine Zahnbürste besessen und ein Stück Kernseife, das er bereitwillig mit jedem Wanderer geteilt hätte, doch Jan war anders. Immer schon gewesen. Er war gepflegt und achtete auf vieles, an das Edith nicht im Traum dachte, und immer sah er aus wie aus dem Ei gepellt. Er wusch seine Hemden im Schonwaschgang und bügelte sie abends, während er Shows ansah, von denen Edith nie gedacht hätte, dass Männer sie sich anschauten. Und deswegen brauchte er morgens so viel Zeit im Bad. Edith durchlitt zwischen zwei und drei Uhr früh, wenn ihre Schlaflosigkeit am schlimmsten war, Höllenqualen bei dem Gedanken, dass ihr Enkel ihretwegen zu spät zur Arbeit kommen könnte. Oder bei dem Gedanken, dass er sie im Bad überraschen mochte, wenn sie es nicht richtig abgeschlossen hatte, oder umgekehrt, und sie wusste nicht, was schlimmer wäre. Am meisten fürchtete sie, dass er sich dann unwohl fühlen und früher als geplant ausziehen würde.
An so etwas hatte sie gedacht. Daran, dass ihr geliebter Enkelsohn sie verlassen könnte, weil das Zusammenleben nicht reibungslos funktionierte. Nicht in ihren schlimmsten Träumen hätte sie erwartet, dass er sie loswerden, aus dem Haus werfen wollte. Ganz wie seine Mutter.
Und darum ließ sie sich auch von dem Frühstücksei nicht rühren. Oder nur sehr wenig.
Obwohl es sie zum Grübeln anregte. Ob er seiner sonderbaren italienischen Verlobten wohl jeden Sonntag ein Frühstücksei gekocht hatte? Zu Ediths Zeit hatten die Männer keine Frühstückseier gekocht, und im Grunde dachte Edith, dass das auch richtig so gewesen war. Zumindest war es weniger verwirrend. Damals war sie nie verwirrt gewesen, und jetzt war sie es, definitiv. Sie wollte sich nicht verwirren lassen. Von einem Verräter wie Jan schon gar nicht.
Entschlossen stellte Edith das inzwischen erkaltete Ei in
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